Das zerbrochene Mädchen
und andere Erzählungen
Fabienne Siegmund
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© 2013 by Verlag Torsten Low,
© 2011 by Verlag Torsten Low, Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen
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Illustrationen und Titelbild: Regine Rost
Umschlaggestaltung: Chris Schlicht
Lektorat und Korrektorat: F. Low, M. Low
Satz: T. Low
ISBN der Druckausgabe: 978-3-940036-10-0
ISBN der EBookausgabe: 978-3-966291-02-6
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Londons Nebel Das Orangenbäumchen Lichtermeer Die Seelenjagd Zaubernächte Das zerbrochene Mädchen Danksagung Die Autorin
Londons Nebel
Das Orangenbäumchen
Lichtermeer
Die Seelenjagd
Zaubernächte
Das zerbrochene Mädchen
Danksagung
Die Autorin
Die Nebel von London konnten alles sein.
Liebe, die sich in Herzen schlich und die Sicht verschleierte. Furcht, die sich wie ein grauer Mantel um die Brust legte und die Luft zum Atmen raubte. Traurigkeit. Hass. Rettung. Verderben. Alles. Und vermischten sie sich mit dem Rauch, der aus den Schornsteinen in den Himmel stieg, konnten sie sogar Gestalt annehmen.
Jede Gestalt.
Weil Rauch und Nebel wie Wolken sind.
Sie konnten über die Dächer tanzen oder schattengleich durch die Gassen der Stadt an der Themse schleichen. Dann waren sie Jäger. Nahmen jemanden mit, einfach so.
Nie mehr tauchte dieser Jemand dann wieder auf.
Stella hatte gesehen, wie die Nebelgestalten Mary mitgenommen hatten. Direkt vor ihrer Nase war es gewesen, am Ufer der Themse, dicht bei der Tower Bridge. Sie hatten Verstecken und Fangen gespielt, obwohl sie für solche Spiele längst zu alt schienen. Aber manchmal kehrten sie zurück in die Tage ihrer Kindheit, in denen das Leben sehr viel einfacher gewesen war. Wie Urlaub war das, wie ein kleines Stück Sonnenschein im regenverhangenen Grau der Stadt.
Doch dann — ganz plötzlich — waren die Nebel aus den Wogen der Themse gekrochen. Zuerst hatten sie sich keine Gedanken gemacht. Das war London, und in London lebten die Nebel. Aber dann waren im Nebel andere Nebelgestalten aufgetaucht. Dunkler. Beinah schwarz, wie die dunkelsten Schatten bei Nacht.
Stella hatte Mary wegziehen wollen, aber gerade als sie nach der Hand ihrer besten Freundin hatte greifen wollen, waren da andere Hände, kleine Hände, die sie von ihr wegzogen. Marys Augen waren voller Unverständnis gewesen, doch ehe sie auch nur etwas rufen konnte, hatte eine der schwarzen Nebelrauchgestalten nach Mary und ihrem gepunkteten Regenschirm gegriffen und war mit ihr verschwunden. Auch alle anderen Nebelgestalten hatten sich dann in Luft aufgelöst. Am Ufer der Themse wogten nur noch die Nebel, die dort immer wogen — silberweiße Schleier.
Sie hatte schreien wollen, aber sie hatte es nicht tun können.
Kleine Hände hielten ihr den Mund zu. Kleine Hände, die sie nicht sehen konnte. Die Hände zogen sie fort, weg vom Ufer, hinein in die Straßen und Gassen der Stadt.
Die Häuser schienen zu flüstern. In London lebt alles.
Das Wasser der Themse.
Die Gassen der Boroughs.
Die Häuser.
Stella hörte nicht hin. Sie dachte nur an Mary.
Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte zurücklaufen, Mary und den Nebelrauchgestalten folgen, aber sie wusste, dass das nicht gehen würde.
Die kleinen Hände hielten sie sehr fest. Versuchten, sie zu beschützen. Hatten es immer schon getan. Warum nur hatten sie nicht auch Mary beschützt?
Stella kannte die Antwort. Nur sie wurde von den Pixies beschützt, niemand sonst. Weil niemand sonst als Kind vom Koboldkönig geküsst worden war.
Der Koboldkönig hatte seine Prinzessin unter den Menschen gewählt, ein Mädchen, das stets unter dem Schutz der kleinen Elfenwesen stehen – und das seinerseits die Elfenwesen schützen sollte.
Stella kannte es nicht anders, also hatte sie sich diesem Schicksal gefügt. Auch wenn sie nicht viel zu tun hatte. Die Pixies, Brownies und Boggharts hatten gelernt, sich zu verbergen.
Selbst vor Stella.
Aber sie waren stets da, wenn sie in Not war. So wie heute, als die Nebel als Jäger kamen.
Irgendwann, Stella hatte nicht mitbekommen, wohin die kleinen Kobolde sie geführt hatten, hielten sie an. Sie musterte die Umgebung. Ein Park. Wahrscheinlich der Hyde Park. Hier trafen sich die unsichtbaren Wesen Londons, tanzten ihre nächtlichen Tänze und erholten sich vom Spuk der Welt. Sonst war Stella immer glücklich, wenn die Pixies sie in ihre Mitte einluden. Sie sang mit ihnen, lachte und tanzte. Aber nicht heute. Mary war fort. Und mit ihr, das spürte Stella, auch ihre Lieder. Was war die Welt ohne eine beste Freundin?
Die kleinen Hände ließen sie los, und wenige Sekunden später standen die Pixies vor ihr im Gras. Die grüngekleideten, schmalgliedrigen Kobolde mit den spitzen Ohren und den braunen Hüten reichten ihr gerade bis an die Knie. Ihre Flügel, fein wie die von Libellen, zuckten aufgeregt, aber keiner von ihnen flog. Stella erkannte sie alle. Sie hatten ihr manches Mal Streiche gespielt. Ihren Teddy versteckt. Ihre Haare am Bett festgeknotet. Socken vertauscht. So waren die Pixies. Stella war oft wütend auf sie gewesen, aber nie sehr lange. Denn die Pixies hatten ihr immer geholfen. »Die Nebel jagen«, flüsterten sie ihr jetzt mit ihren seltsam schrillen und keckernden Stimmen zu. »Du darfst nicht in die Nebel gehen«, fügten sie hinzu und sahen sich um, als wollten sie sicher gehen, dass kein Nebel sich nach dem Hyde Park verirrt hatte. »Ich muss Mary retten«, sagte Stella nur. Die Pixies sogen die Luft ein und schüttelten die Köpfe. »Sie ist verloren«, keckerten sie traurig, »sie ist verloren. Du darfst nicht verloren gehen. Du nicht.« Sie griffen erneut mit ihren kleinen Händen nach Stellas Armen, aber das Mädchen riss sich los und rannte fort, zwischen die Bäume. Sie wusste, dass die Pixies ihr folgen würden. Unsichtbare Wächter und Begleiter, das waren sie alle Zeit. Unter einer alten Eiche kam sie zur Ruhe. Nie hatte sie eine der Dryaden getroffen, die in ihren Stämmen lebten, aber sie spürte sie, hörte die leisen, tröstenden Lieder, und ihre Blätter raschelten. Eine Stimme schreckte sie auf. Kalt klang sie, nett und traurig. Als Stella aufsah, blickte sie in die rotgeweinten Augen einer Banshee. Sie hätte sich erschrecken müssen, aber sie tat es nicht. Zu oft schon hatte sie eine Banshee weinen sehen. Nie war ihr etwas geschehen. Sie war die Koboldprinzessin. Erst, wenn sie das Lied, das die Todesfee sang, hören würde, dann würde sie sterben.
»Ich habe für Mary gesungen«, sagte die Banshee leise. Es klang, als wären ihre Worte der Wind, der über Gräber strich.
Stella sah sie fassungslos an.
Die Banshee ließ den Kopf hängen. »Ich musste es tun. Mylady Muerte hat ihre Rauchnebel ausgesandt.«
»Mylady Muerte?« Auch Stellas Stimme war nicht mehr als ein Wispern.
Die Banshee nickte. »Sie geht durch die Städte der Welt. Ihre Nebel sammeln die Seelen ein. Hier in London ist sie zu Haus.«
»Sie hat Mary«, stellte Stella fest.
Wieder ein Nicken der bleichen Frau mit dem Haar, das ebenso weiß wie ihre Kleidung war.
»Dann muss ich zu ihr. Ich muss Mary befreien«, wiederholte Stella, was sie auch schon zu den Kobolden gesagt hatte.
Die rotgeweinten Augen der Banshee sahen sie schreckerfüllt an. »Das geht nicht. Niemand geht zu Mylady Muerte, den sie nicht ruft. Und wen sie ruft, der ist tot.«
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