Edmund senkte die Stimme: „Wir schaffen das! Wenn ich diesen blöden Spruch schon höre.“ Selbstgefällig lachte er auf.
„Ja, gut … aber vergiss bitte eines nicht, Edmund“, warf Lisa säuerlich ein, „unsere Eltern und Opa und Oma waren vor gar nicht so langer Zeit auch mal Heimatvertriebene!“
Beide stockten, ergriffen ihre Getränke und schauten sich über den Tisch hinweg mit geröteten Wangen an. Die Heizung im Restaurant war eindeutig zu hoch eingestellt.
Runa, für die derartige Wortgefechte zwischen ihrem Frauchen und Edmund nichts Außergewöhnliches waren, kroch unter dem Tisch hervor, legte ihren Kopf auf Lisas Knie, wedelte mit dem Schwanz und kommentierte die Situation mit einem kurzen, aber heftigen Schnaufen. Liebevoll streichelte Lisa ihr über den Kopf, überlegte sorgfältig, musterte ihren Bruder mit einem kritischen Blick und sagte dann mit klarer Stimme: „Meinst du etwa, es wird einfacher sein, in einem Land zu leben, in dem eine Militärjunta regiert?“
Obgleich nur mit Boxershorts bekleidet, treibt die Hitze Edmund den Schweiß aus allen Poren. 26 Grad und das gegen 6 Uhr in der Früh. Alles andere als erfrischend.
Er verriegelt die Fenster, stellt die Klimaanlage an und entschließt sich dazu, trotz der Unzeit an seinem Debütroman Der Klang der Shakuhachi zu arbeiten.
„Ein Buch wie dieses sollte man besser sogleich wegwerfen. Warte nicht darauf, bis ich es tue. Lass das Buch niemals in der Welt verbreiten, und wäre es auch nur in der kleinsten Auflage.“
Wie ein Damoklesschwert hängt dieser kurze Textabschnitt des Zen-Meisters Mu-mon Ekai in einem der von Edmund bereits fertiggestellten Kapitel über seinem Kopf. Hinzu kommt, dass sich heute auf den Tag genau zum fünfzehnten Mal der Terroranschlag auf die Twin Towers in New York jährt.
Vermutlich wäre ich ohne dieses weltbewegende Ereignis nie auf die Idee gekommen, einen Roman zu schreiben, sinniert Edmund und verharrt für einen Moment lang mit gebanntem Blick auf den in der Ferne blinkenden roten Signalleuchten, die zu tief fliegende Flugkörper auf das Hilton Hotel hinweisen sollen.
Die Bilder der aus den Fenstern der beiden rauchenden Zwillingstürme des World Trade Centers springenden Menschen hatten sich damals unausweichlich in sein Gedächtnis eingebrannt und schrien selbst nach so vielen Jahren immer noch nach Verständnis.
Gedankenversunken füllt Edmund den Sharp-Kocher mit Wasser auf, greift sich eine der handlichen Instant-Kaffee-Päckchen, schüttet das Pulver in den mit bunten Blumen verzierten weißen Henkelbecher aus Plastik und wartet geduldig, bis das orange Kontrolllämpchen erlischt.
Gerade als er das kochende Wasser über die Kaffeemischung gießt, stimmt der Bandleader in der zirka fünfhundert Meter Luftlinie entfernten Musikbar ein kräftiges Happy Birthday für einen der anwesenden Gäste an. Im Nu feiert das ganze Lokal lautstark das Geburtstagskind.
„Happy birthday to you …!“
Vorsichtig nippt Edmund an seinem heißen Kaffee, schließt die Augen und fragt sich, ob er seinen Roman-Protagonisten, den Architekten Helmut Neumann, im Verlauf des Romans wirklich sterben lassen sollte.
Der Moment zieht sich.
Allein die Tatsache, dass er damit hadert, einer seiner Romanfiguren möglicherweise die Existenzberechtigung zu entziehen, stimmt ihn nachdenklich.
Edmund öffnet die Augen, seufzt, starrt mit einem Ausdruck der Ratlosigkeit auf die Tastatur seines Laptops, während unten auf der benachbarten Pattaya 3rd Road ein Rettungswagen mit hoher Geschwindigkeit und lauter Sirene vorbei rast.
Ein kräftiger Regen hat eingesetzt und sorgt nicht nur für etwas Abkühlung, sondern lockt mit dem Ansteigen der Luftfeuchtigkeit auch die Frösche aus ihren Verstecken. Sobald die umliegenden sandigen Brachflächen rund um Edmunds Apartment mit zahlreichen Pfützen übersät sind, ertönen regelmäßig großartige Balz-Konzerte.
Die Oldie-Band hat sich nach einer kurzen Pause zurückgemeldet und drängt nun mit After Midnight von J. J. Cale die Naturgeräusche in den Hintergrund.
Wahrscheinlich nicht ihr letzter Auftritt, mutmaßt Edmund gereizt, während sich der Himmel kübelweise über Pattaya ergießt.
Gefolgt von mehreren gewaltigen Blitzen direkt über seinem Apartment, erzittern bei jedem Donnerkrachen sämtliche Wände.
Ein Wunder, dass weder die Stromversorgung noch die Internetverbindung zusammenbricht, denkt Edmund. Sicherheitshalber zieht er den Stromstecker seines Laptops aus der Steckdose.
Obwohl sich die Naturgewalten noch mehrmals in Folge mit voller Wucht zurückmelden, scheint das außer ihm niemanden zu tangieren. Die Froschmännchen werben unvermindert um die Gunst der Weibchen und die Oldie-Band zieht lautstark ihr Programm durch.
Datenverlust, diese Form der Amnesie für Computer ist für Edmund trotz externer Festplatte und der Google-Cloud sein größter Horror.
Da schreibst du jahrelang an deinem ersten Buch, und plötzlich ist alles weg, stellt er sich gerade vor, als erneut über seinem Kopf ein Blitz kracht.
Für einen Moment stülpt sich die Vergangenheit wie ein Kartoffelsack über sein ganzes Wesen.
Verdammt lang her die Zeit, als seine Mutter an Alzheimer erkrankt war. Unmerklich, dafür aber äußerst effektiv begann die tückische Krankheit ihre Schaltzentrale zu zersetzen. Dunkle Erinnerungen streifen Edmunds Bewusstsein.
„Guten Tag Mama.“
„Wer sind Sie?“
„Ich bin’s, Edmund, dein Sohn. Schau mal, wie schön, ich habe dir eine weiße Orchidee mitgebracht. Deine Lieblingsblume!“
„Was wollen Sie? Verschwinden Sie, ich kaufe nichts!“
„Aber Mama, ich bin’s … dein Sohn, Edmund! Die Blume ist ein Geschenk an dich. Du musst nichts bezahlen. Schau, wie schön … deine Lieblingsblume!“
„Wo bin ich?“
„Im Seniorenzentrum St. Augustin.“
„Siegfried! Siegfried! Komm schnell, hier ist ein fremder Mann! Siegfried! Wo ist Siegfried?“
„Mama … dein Mann, Siegfried, ist schon lange tot!“
„Ich will nach Hause!“
Gedankenversunken schlurft Edmund zum Ostfenster, um von dort aus weitere Entladungen zu beobachten.
„Ein Blackout hin oder her … falls du wirklich von einem Blitz getroffen wirst, ist eh alles egal“, spezifiziert er seine existenziellen Überlegungen, als plötzlich aus dem Nichts dieser geniale Gedankenblitz auftaucht.
„Genau, die Natur soll es richten … und zwar mit Hilfe eines Blitzes“, murmelt Edmund erfreut in seinen Bart.
Endlich hat er eine adäquate Möglichkeit gefunden, den Architekten Helmut Neumann aus dem Leben scheiden zu lassen.
Unrealistisch? Nein! Laut Google werden jährlich bis zu tausend Menschen weltweit von Blitzen erschlagen.
Mal wieder im Flugzeug
Zürich, Schweiz, 31. Juli 2002, später Nachmittag
Helmut Neumanns Taxi kam im zähfließenden Berufsverkehr einfach nicht vom Fleck. Zu alledem prasselte auch noch ein fürchterlicher Schauer auf die Stadt nieder.
Fette Regentropfen klatschten wie Kuhfladen auf die Windschutzscheibe des beigen Mercedes S 250 und brachten den Verkehr schlussendlich ganz zum Erliegen.
Entsetzt starrte Helmut auf seine Armbanduhr, eine Original Rolex Submariner aus dem Jahre 1995.
Dem Taxifahrer schien dagegen diese unfreiwillige Pause gerade recht zu kommen. Ungeniert streckte er seine Glieder, schaltete den Verkehrsfunk ein und pulte in aller Ruhe einen Kaugummi aus der Verpackung.
Die aktuelle Verkehrsdurchsage verhieß nichts Gutes.
Unmerklich zupfte Helmut an seiner Krawatte, stieß dabei einige räuspernde Töne aus. Das Ding zwickte. Er war es einfach nicht gewohnt, eine zu tragen. Doch diesmal musste es sein.
Außer in seinem Outfit, in der Regel ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose der Marke Hugo Boss, entsprach Helmut überhaupt nicht den geläufigen Vorstellungen eines Architekten. Genauso gut hätte er mit seinen 48 Jahren auch als gereifter Berufsmusiker in irgendeinem klassischen Orchester arbeiten können. Und in einen branchenspezifischen Overall gesteckt, würde man ihm sogar das kaputte Auto oder die defekte Heizung zur Reparatur anvertrauen.
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