Der Junge ging zum Fenster. Jetzt war er genau unter ihr und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Wer war er? Marjoire hatte erzählt, dass der Lord und die Lady einen Sohn hatten. Emma beugte sich über das Geländer, um ihn beobachten zu können, und erschrak, als er plötzlich den Kopf hob. Schnell trat sie zurück und hätte beinahe den Eimer umgestoßen. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie Angst hatte, es könnte ihr aus der Brust springen. Er hatte sie bestimmt nicht gesehen, denn ohne ein Wort und einen weiteren Blick verschwand er wieder. Emma beruhigte ihre Atmung und arbeitete dann weiter. Catherine kam zurück, als Emma fast fertig war.
»Wahnsinn. Du bist ja schon fast fertig.« Zur Kontrolle fuhr Catherine mit dem Zeigefinger über die Regale. »Toll. Dann komm mal mit, ich zeige dir die Gästezimmer, die du bitte säuberst. Also Staub wischen, Fenster putzen, Fußböden reinigen und die Betten frisch beziehen. Das Bettzeug findest du im Schrank. Ich zeige dir alles. So wie es aussieht, ist es wohl sehr hoher Besuch. Hoffentlich sind ein paar nette Männer dabei. Was fürs Auge, weißt du.« Catherine lächelte, als sie das sagte. »Ich hoffe, ich bringe dich nicht in Verlegenheit«, fügte die eingefleischte Dienstmagd hinzu, als sie Emmas schüchternen Blick sah. »Weißt du, ich arbeite sehr gerne hier. Die Herrschaften bekomme ich nur selten zu Gesicht. Am Wochenende, wenn Besuch da ist, muss ich im Service mithelfen. Aber sonst bin ich zufrieden, dass ich putzen darf. Ich habe Zeit für mich.« Sie nahm frische Bettwäsche aus dem Schrank. »Woher kommt ihr eigentlich?«
»Ursprünglich kommen wir aus South Dakota. Henry und ich wurden von unserer Mutter weggeschickt. Sie wollte ein besseres Leben für uns.« Emma half Catherine, das Laken über die Matratze zu heften. »Und dein Bruder? Ich finde, er ist sehr ruhig. Kann er nicht sprechen?«
»Henry kann eigentlich sehr gut sprechen. Doch seit dem Vorfall spricht er kaum noch ein Wort.«
»Welchem Vorfall?« Catherine zog die Stirn kraus.
»Na ja, unsere Mutter. Sie hat uns nicht weggeschickt, sondern sie wurde auf offener Straße erschossen, weil sie jemanden eines Überfalls beschuldigt hatte.« Emma schwieg. Es war ihr herausgerutscht. Eigentlich hatten sich die Geschwister geschworen, nichts zu erzählen. Doch es war irgendwie so passiert. »Aber bitte sag zu niemandem etwas.«
Catherine war so erschrocken über die Neuigkeit, die sie soeben erfahren hatte, dass ihr die Stimme versagte. Sie schüttelte nur den Kopf.
Am Abend wussten alle über Emma und Henry Bescheid. Es war, als hätte Emma selbst die Zündschnur angezündet und sie an Catherine weitergereicht. Als Emma unterdessen in ihr Zimmer kam, sah sie Henry unter seiner Decke. Er hatte ein Auge geöffnet.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie erschöpft. Vorsichtig streifte sich Emma die Schuhe von den Füßen. Sie schmerzten. So schwer hatte sie noch nie zuvor gearbeitet. Henry drehte den Kopf.
»Es tut mir leid, Henry. Ich wollte es nicht sagen, es ist mir einfach so herausgerutscht.« Emma wollte Henry über die Wange streichen, doch er hob den Arm und wehrte sie ab. »Bitte. Es tut mir leid«, seufzte sie und krabbelte unter ihre eigene Decke.
Das Wochenende stand vor der Tür und mit ihm die vielen Gäste. Catherine sollte Recht behalten. Es waren wirklich gutaussehende Männer dabei. Während sie Cady beim Servieren helfen musste, bekam Emma zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit noch die von Catherine aufgetragen. Marjoire tätschelte ihr liebevoll die Schulter. Seitdem alle wussten, was wirklich geschehen war, waren sie anders zu den Zwillingen. Nicht im negativen Sinne. Nein, sie waren vorsichtiger.
Emma nahm sich den Eimer mit Wasser, Staubwedel und Lappen. Mit vorsichtigen Schritten ging sie den langen Korridor entlang. Die Flure, die sich nicht im Dienstbotentrakt befanden, waren hell erleuchtet. Kerzenleuchter hingen an den Wänden und schlanke Teppiche bedeckten den kalten Marmorfußboden. Der Familie fehlte es an nichts. Emma säuberte erst das Schlafzimmer vom Lord und der Lady, verschwand dann in Oscars Zimmer, um sich danach dem verlassenen Zimmer von Marianne zu widmen. Ihr Herz klopfte und ihr Magen zog sich merklich zusammen. Emma wusste nicht, was auf sie zukam. Ihre Hand ruhte eine gefühlte Ewigkeit auf der Klinke. Noch einmal kurz durchgeatmet und schon stand Emma mit einem Bein in Mariannes Zimmer. Es war wirklich prächtig. Die Seidenvorhänge hingen nicht trostlos da, sondern waren nett drapiert. Die Puppen saßen auf dem bezogenen Bett und auf dem Schreibtisch lag ein Block mit einer Zeichnung. Lady Cumberland hatte fast alles so gelassen, wie es gewesen war. Catherine durfte nur Staub wischen, die Fenster putzen und den Boden wischen.
»Du musst deine Arbeit dort so schnell wie möglich verrichten. Die Lady darf dich nicht entdecken«, hatte Catherine ihrer Kollegin eingeschärft. Emma hatte genickt. Sie wollte Catherine nicht in Schwierigkeiten bringen. Gerade heute mussten die Fenster geputzt werden. Vorsichtig öffnete Emma ein Fenster. Die kalte Januarluft strich ihr durch das Haar und sie bekam eine Gänsehaut auf dem Arm. Die Aussicht war grandios. Es war das schönste Zimmer im ganzen Haus. Die Lady musste ihre Tochter sehr geliebt haben. Von hier aus konnte man den Rosengarten sehen und die untergehende Sonne. Emmas Aufmerksamkeit wurde von einem Bild an der Wand angezogen. Sie ging einen Schritt näher heran, um es besser in Augenschein nehmen zu können. Es war die Sonne, die sich im Meer verlor. Die Rosen blühten in voller Blüte und der Rasen hatte so ein saftiges Grün.
»Das hat meine Tochter gemalt. Sie ist eine leidenschaftliche Malerin.« Emma erschrak, als sie eine fremde Stimme hörte. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, doch es tat sich kein Loch im Boden auf.
»Es tut mir leid. Ich wollte nicht. Ich... Ich... Ich war nur so fasziniert.« Emma hielt den Blick gesenkt.
»Sie müssen sich nicht schämen. Marianne liebt das Malen und hat sicher nichts dagegen.« Emma konnte Schritte hören. Ein blaues Kleid mit schwarzen Schuhen trat in ihr Blickfeld.
»Marianne liebt es, wenn ihr Talent geschätzt wird. Sie müssen sie unbedingt bald kennenlernen.« Die Frau legte ihren Zeigefinger unter Emmas Kinn und hob es hoch. Nun blieb Emma nichts anderes übrig, als Fiona Cumberland in die Augen zu schauen. Sie war groß, hatte krauses, blondes Haar und eingefallene Wangen. »Sei nicht so ängstlich. Die dumme Catherine hat sich nie um die Kunst meiner Tochter geschert. Sie hat nur ihre Arbeit gemacht.« Sie machte eine abwertende Handbewegung.
»Das wusste ich nicht.« Emma versuchte neutral zu bleiben. Sie wollte Catherine nicht mit einem falschen Wort negativ dastehen lassen.
»Tja, das kannst du doch auch nicht wissen. Mr. Harrisson hat mir erzählt, dass wir zwei neue Zöglinge haben.«
»Ja, ich wollte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie mich und meinen Bruder aufgenommen haben. Es ist hier sehr nett.« Emmas Glieder entspannten sich langsam.
»Wie alt bist du?«, fragte Fiona und rauschte wie von Zauberhand zum Fenster hinüber. Still blickte sie dem trüben Tag entgegen.
»Vierzehn.« Emma nahm den Lappen in die Hand und begann vorsichtig, in der anderen Ecke den Staub zu entfernen.
»Marianne ist auch vierzehn. Sie wird bald fünfzehn. Vielleicht hast du Lust, mir bei der Vorbereitung für die Überraschungsparty zu helfen?«
Fiona schaute sich zu Emma um, die gerade die Türklinke putzte. »Das musst du doch nicht tun.« Fiona trat zu Emma und nahm ihr den Lappen aus der Hand. »Du sollst mir doch bei der Überraschungsparty helfen.«
Emma runzelte die Stirn. »Natürlich, wie Sie wünschen.«
»Oh, wunderbar.« Für einige Sekunden begann die strenge Haltung der Lady Cumberland zu brechen. »Ich werde Leo gleich benachrichtigen.« So urplötzlich wie Fiona gekommen war, verschwand sie auch wieder. Emma blieb allein zurück. Ihr Herz begann erneut zu pochen. Marjoire hatte doch erzählt, dass Marianne vor Jahren gestorben sei? Sie rieb sich die Schläfe, um sich danach wieder ihrer Arbeit zu widmen.
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