Kurze Zeit später kroch sie auf die weiche Matratze und unter die warme Daunendecke. Obwohl es schon April war, war es noch kalt. Aber hier war es viel angenehmer als zu Hause. Lara dachte über das Essen nach und darüber, was Yuna über ihren Sohn gesagt hatte. »Ich hoffe das er durch dich ruhiger wird.« Inwiefern? Wie war er denn vorher? Fragen ohne Antworten ließen ihrem Kopf keine Ruhe.
Die Nacht verlief unruhig. Sie hatte Mühe einzuschlafen. Sie wälzte sich unruhig hin und her, doch der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen.
Irgendwann musste Lara doch eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, kroch ihr der Duft nach frischem Kaffee in die Nase. »Wie spät ist es?«, fragte sie verschlafen und drehte sich um. Daniel saß mit einem Tablett auf der Bettkante .
»Bed and Breakfast«, sagte er und lächelte. Lara setzte sich auf und knetete ihre Haare wie feuchte Wäsche. »Hast du gut geschlafen?« Er stellte einen kleinen Betttisch über ihre Beine, um das Tablett darauf zu drapieren.
Es war gefüllt mit Toast, Marmelade, heißen Würstchen und Rührei.
»Guten Appetit.«
Daniel schenkte ihr Kaffee ein. »Milch und Zucker?«
»Beides, bitte.« Daniel tat zwei Löffel Zucker und einen Schluck Milch in den Becher mit der britischen Flagge drauf.
»Meine Eltern mögen dich«, sagte er mit dem Blick nach draußen.
»Aber, ich meine, sie kennen mich doch noch gar nicht richtig.« Lara biss von der Wurst ab.
»Natürlich muss man sich erst richtig kennenlernen, aber sie finden dich nett.« Daniel lächelte, als er aus seiner Trance zurückkehrte.
»Das freut mich.«
Fünfundvierzig Minuten später stand Lara mit Charlene in der großen Halle und wartete auf Daniel. Es war ein kühler Tag, obwohl die Sonne schien. Lara hatte ihre Strickjacke aus der Tasche genommen, sich die Haare hochgesteckt und ein wenig Rouge aufgetragen.
»Tut mir leid, Großmutter wollte noch kurz mit mir sprechen. Sie kommen heute Abend zurück.« Daniel hakte sich bei Lara ein.
»Hat sie angerufen?« Charlene stieg in den schwarzen Mercedes, der vor dem Haus parkte.
»Ja.« Daniel nickte. Gary schloss die Autotür, nachdem die drei jungen Erwachsenen eingestiegen waren. Zusammengepfercht wie Schafe saßen sie auf der Rückbank. Ihre Beine streiften sich und Laras Herz begann zu hüpfen, als Daniel nach ihrer Hand tastete. Sie hatte Marcel vergessen. Es war, als würde er auf der anderen Seite eines langen Tunnels stehen.
»Gary wird uns zum Piccadilly Circus bringen, von wo aus wir die Sightseeingtour beginnen.« Charlene zog eine Karte aus ihrer Tasche und reichte sie Lara.
»Danke.«
Zehn Minuten später saßen sie auf dem Deck eines Doppeldeckerbusses und genossen die Aussicht auf die Eros Statue, die inmitten von Touristen aus dem Trubel herausstach. Als Knotenpunkt der wichtigsten Straßen von London war der Platz ein beliebter Treffpunkt. Der Bus fuhr in östliche Richtung zum Leicester Square, der bekannten Fußgängerzone. Welche Straße und welcher Platz ist hier eigentlich nicht belebt, fragte sich Lara und musste über die Bemerkung der Reiseführerin, die mit wildem Haar und quietschender Stimme den Touristen ordentlich einheizte, lachen.
»Weiter geht’s zum Trafalgar Square«, sagte sie mit Singsang und streckte ihre Arme weit aus, in die Richtung, in der die Nelsonstatue in vierundsechzig Meter Höhe stand. Lara schaute auf die Karte.
»Weißt du, die Statue ist zum Gedenken an Admiral Horatio Nelson errichtet worden. Er ist in der Schlacht von Trafalgar gefallen«, erzählte Charlene mit Feuereifer. Der Trafalgar Square kam Lara so riesig vor, wie ein Stadtteil von Flensburg. Danach ging es weiter zum großen Paradeplatz in der Nähe der Whitehall, Downing Street, und danach zum Big Ben, wo eine kleine Pause eingelegt wurde.
Daniel führte Lara zum Turm. »Komm mit, ich mache ein paar Fotos, die wir bei Facebook posten können. Deine Schwester wird vor Neid erblassen.« Er lachte und zog sein iPhone aus der Hosentasche. Schon begann das Blitzlichtgewitter und Lara stellte sich, gefolgt von Charlene, in Pose.
»Du musst auch mit aufs Foto«, sagte Lara und zog Daniel vor die Kamera. Mit ausgestrecktem Arm knipste er das Trio. Es war sehr schön. Die Themse, das Hufklappern der Pferde, die die vorbeifahrenden Kutschen zogen, und die Touristen, die ihre Augen hinter der Linse versteckten. Lara schloss die Augen, um den Moment aufzusaugen. Die Fahrt ging weiter und Lara bekam mehr und mehr von der Schönheit Londons zu sehen. Daniel postete mittlerweile die Fotos vom Big Ben und von der Fahrt über Laras Facebook-Profil.
»Woher hast du meine Logindaten?«, fragte Lara nervös.
»Du hast sie gespeichert.« Daniel lächelte. »Tut mir leid. Ich dachte, ich lade die Fotos schon mal hoch. Ich wusste nicht, dass dir das etwas ausmacht.« Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Dir hat eine Christin geschrieben. Die war doch auch im Laden, oder?« Er zeigte mit dem Finger auf das total chaotische Foto von Christin. Sie streckte ihre Zunge verführerisch in die Kamera, so dass ihr Piercing gut zur Geltung kam.
»Was schreibt sie denn?«, fragte Lara, zog ihre Frage aber sogleich zurück, denn Daniel verstand ihre Sprache ja nicht. »Sorry. Ich hatte vergessen, dass du kein Deutsch kannst.«
»Aber ich werde es jetzt lernen.« Er reichte ihr das iPhone und ließ ihr Zeit, Christin zu antworten.
Christin: Hey, na bist du gut angekommen?
Lara: Ja, sehr gut. Es ist sehr schön hier. Alles viel größer. Haben gerade Fotos gemacht. Janet glaubt mir nicht.
Christin: Ich weiß. Sie hat mir geschrieben.
Lara: Und war sie sehr sauer?
Christin: Sauer ist gar kein Ausdruck. Sie ist wütend. Aber ich habe ihr alles erklärt. Sie hat
es verstanden.
Lara: Da bin ich ja beruhigt. Du, ich muss Schluss machen. Wir halten gerade am Buckingham
Palace. :-*
Lara loggte sich aus und gab Daniel das iPhone zurück.
»Danke. Christin hat mit Janet gesprochen und sie ein wenig besänftigt. Sie ist mir nicht mehr allzu böse.«
»Das ist ja schön.« Daniels Haare leuchteten in der Sonne noch rötlicher als in Flensburg. Und da fielen ihr zum ersten Mal die Unterschiede zwischen Charlene und Daniel auf.
Somerset, Januar 1956
Catherine führte Emma und Henry über einen Korridor, der in einer Art Treppenhaus mündete.
»Hier geht es bis nach oben unters Dach. Wir Angestellten halten uns nur im Dienstbotentrakt auf. Es sei denn, wir müssen arbeiten.« Catherine ging voraus und blieb nach vielen Stufen auf einem kleinen Flur stehen, von dem drei Türen abgingen.
»Hier ist Cadys und mein Zimmer. Dort das Bad und das ist euer Zimmer.« Catherine öffnete die Tür. Emma trat vorsichtig ein. Die Bodendielen knarrten bei jedem Schritt. Das Glas des kleinen Fensters war völlig verdreckt und im Nacken spürte sie die Spinnweben. An der Wand hing ein kleines Kruzifix und auf dem Nachttisch lag eine abgegriffene Bibel.
»Ich werde euch trockene Sachen bringen. Heute könnt ihr euch noch ausruhen. Morgen früh um fünf Uhr treffen wir uns gewaschen und angezogen in der Küche. Mr. Harrisson erklärt uns den Tagesplan und Marjoire gibt uns den Essensplan. Eigentlich macht sie den immer am Sonntagabend, aber ab und zu ändert sie auf Wunsch der Herrschaften einige Gerichte.«
»Wo sind denn Marjoires und Mr. Harrissons Zimmer?«, fragte Emma. Henry ging ins Zimmer, legte sich aufs Bett und schloss die Augen.
»Er ist zu müde, um wach zu bleiben.« Emma strich sich über das feuchte Kleid.
»Marjoire wohnt mit George in einem kleinen Cottage neben dem Friedhof. Irgendwie unheimlich. Aber sie wohnen schon ihr ganzes Leben dort.«
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