Mein Sprungbrett in die Hölle
Als ich an meinem ersten Arbeitstag über den Campus des Firmengeländes der Schwesterfirma in Berlin lief, merkte ich nach wenigen Augenblicken, dass hier ein ganz anderer Wind wehte. Hier wuselten lauter junge Leute in schicken Anzügen bzw. Kostümen herum, hielten in der einen Hand ihr Smartphone, um mit der anderen Hand auf dem Tablet noch eben eine E-Mail abzuschicken. Alle wirkten wichtig und gestresst, sprachen Englisch und hatten dieses Gewisse Feuer in sich.
Als ich pünktlich und wie vereinbart um 10:00 Uhr im Büro meines Chefs eintrat, verschwand meine Euphorie, ab jetzt zur Elite zu gehören, augenblicklich.
„Was fällt Ihnen ein, so spät hier aufzukreuzen? Ich wollte gerade eine Vermisstenanzeige aufgeben“, ranzte mich mein neuer Chef an.
„Aber Sie sagten doch, dass ich erst um 10:00 Uhr hier sein soll.“
„Sie behaupten also im Ernst, ich wüsste nicht mehr, was ich mit Ihnen ausgemacht habe? Reißen Sie sich bloß zusammen Herr Polder, ansonsten sind Sie hier schneller weg, als sie hergekommen sind!“
Nach dem Anschiss lächelte er, als wäre überhaupt nichts gewesen und stellte mich den vielen Kollegen, sowie meinem Paten Peter vor. Er war derjenige, der mich einarbeiten sollte, also hörte ich ihm gespannt zu und freute mich auf neues Wissen.
Nach ein paar Stunden, wir machten gerade Mittagspause, überlegte ich mir, was ich schon alles von Peter gelernt hatte. Mhhh – da fällt mir aber nicht viel ein. Liegt das an mir? Komme ich nicht mit, oder was ist los?
Nach der Pause versuchte ich meine Müdigkeit zu ignorieren, denn bis Berlin fuhr ich fast 6 Stunden und war dementsprechend schon lange auf den Beinen. Doch bei jedem Satz, den Peter aussprach, dachte ich mir:
Spricht der ne andere Sprache? Woran liegt denn das, dass nichts von dem, was er sagte, bei mir ankommt?
Ich konzentrierte mich, starrte auf seine Lippen und sah, dass sie sich bewegten. Auch hörte ich Worte, aber verstanden habe ich nur bla… bla… bla…
Es war zum Verrücktwerden. Peter war einer von der Sorte Mensch, die nichts sagten, während sie sprachen. Das aber mit absoluter Überzeugung und sicherem Auftreten, bei völliger Ahnungslosigkeit. Und dennoch war Peter das ‚Beste Pferd im Stall‘ dieser Abteilung. Nach ein paar wenigen Tagen, statt ein paar Monaten wie vertraglich vereinbart, sagte Peter:
„So, da du ja eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, darfst du gleich morgen früh schon nach Rumänien fliegen, um deinen ersten Auslandseinsatz abzuwickeln. Das ist eine große Ehre, wenn man schon so früh seinen ersten Auftrag bekommt.“
Adrenalin schoss mir durch die Gefäße, meine Augen waren weit aufgerissen und mein Puls erhöhte sich. Auf der einen Seite freute ich mich auf die bevorstehenden Auslandseinsätze, auf der anderen Seite wusste ich doch noch gar nicht, was ich dort machen sollte, denn einen konkreten Auftrag hatte ich von Peter noch nicht bekommen. Auch hatte ich noch keinerlei Einarbeitung genossen.
„Mach dir keine Sorgen, ich fliege ja mit dir“, beruhigte mich Peter.
Na Gott sei Dank, ich dachte schon ich bekomme einen Herzinfarkt.
Abends gegen 19:30 Uhr verließen wir gemeinsam das Büro.
„Du Peter, ist das eigentlich normal, dass wir täglich von 8:00 – 19:30 Uhr arbeiten?“
„Nein, nein, das ändert sich nach der Weihnachtszeit, denn dann ist die ruhige Phase vorbei.“
Ich wusste nicht ob Peter gerade einen Scherz machte oder es ernst meinte, war in dem Moment aber einfach nur froh, dass ich auf dem Weg in meine Wohnung war. In meinem neuen Heim angekommen, hatte ich weder Energie, um Kartons auszupacken, noch irgendwelche Schränke aufzubauen. Ich fiel einfach mitsamt dem Anzug ins Bett und schlief die ganze Nacht durch.
Analyse:
Wie viele Kollegen wollte auch ich mir keine Blöße geben und tat so, als würde mir das alles nichts ausmachen. Auch wollte ich es selbst nicht wahrhaben, dass mich so ein ‚bisschen‘ Arbeit erschöpfen könnte, denn als Handwerker arbeite ich mindestens genauso viel. Aber die Kopfarbeit, die Verantwortung, der Druck, der deutlich zu spüren war und das Gefühl, dass Peter mir gegenüber nicht wohlwollend und ehrlich war, machten mir enorm zu schaffen. Zu den langen Tagen im Büro kamen noch jeweils morgens und abends eine Stunde Anfahrt im Berliner Berufsverkehr dazu, nach der Arbeit noch der Einkauf und der Haushalt. Ich stand von morgens 6:30 Uhr bis abends um 24:00 Uhr unter Dauerstrom und hatte keine Stunde Zeit zum Erholen oder gar genießen. Schlafstörungen wurden zur Routine.
Egal was Sie in eine solche Situation getrieben hat. Ob Geldgier, Arbeitswut, der Wunsch nach Beförderung, falsche Versprechungen, oder die Flucht vor Ihrem bisherigen Leben.
Egal wie sehr eingespannt und gestresst Sie sind, nehmen Sie sich abends Zeit für sich, seien Sie ehrlich zu sich selbst und analysieren Sie:
• Will ich all den Stress in Kauf nehmen, nur des Geldes wegen?
• Halte ich den Druck auf Dauer aus, oder mache ich mir nur was vor?
• Ist ‚Karrieremachen‘ es wert, dass ich meine komplette Freizeit und somit Lebensqualität dafür opfere?
Jeder Mensch hat unterschiedliche Belastungsgrenzen. Erkennen Sie Ihre!
Stress ist pures Gift
Abflug war um 7:15 Uhr, also klingelte der Wecker um 3:00 Uhr. Rechtzeitig kam ich am Flughafen Berlin-Tegel an und erwartete, dass Peter und ich die einzigen Fluggäste seien, doch weit gefehlt. Der Flughafen war voll mit Geschäftsmännern und eleganten Frauen in Kostümen, die alle nur mit Handgepäck reisten. Die haben wohl auch alle einen Termin in Rumänien und fliegen bald wieder zurück. Ich sah mir die Leute näher an, blickte in ihre Gesichter und beobachtete, was Stress mit der Haut, den Haaren, der Körperhaltung und den Gesichtszügen anstellen kann.
So will ich niemals aussehen!
Ich blickte auf die Uhr und fragte mich, wann Peter wohl auftauchen würde.
Soll ich ihn anrufen? Ist das nicht zu früh, um jemanden anzurufen? Auf der anderen Seite muss er ja wach sein, zumindest sollte er das. Ich rief ihn an, aber er ging nicht ran. Ich schrieb eine E-Mail, aber auch die blieb unbeantwortet. Mein Puls erhöhte sich, als das Boarding startete und Peter immer noch nicht zu sehen war. Ich versuchte ihn noch ein paar Mal zu erreichen, doch ohne Erfolg, also hob der Flieger mit mir, aber ohne Peter ab.
Was mach ich denn, wenn ich in Bukarest angekommen bin? Holt mich jemand ab? Wo muss ich hin? Wer ist in dem dortigen Büro mein Ansprechpartner? Sprechen die Kollegen dort nur Rumänisch oder Englisch? Und was mache ich dort überhaupt?
Blanke Panik beherrschte mich, denn Peter, mein Pate, hatte alle Unterlagen, kannte dort jeden Kollegen und wusste, welchen Auftrag wir dort zu erledigen hatten. Mir hingegen wurde nichts, aber auch rein gar nichts mitgeteilt.
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