Leriana sah ihn mit blitzenden Augen empört an. „Ich bin nicht fett. Unser Steuermann Koros meint, ich sei sehr gut portioniert.“
„Er meinte sicherlich, gut proportioniert“, korrigierte er grinsend. „Verstehe mich nicht falsch. Du bist sicherlich prachtvoll gebaut, wenn auch entsetzlich groß. Doch du bist nun einmal wesentlich schwerer als ein Zwerg. Selbst wenn er so kräftig und prachtvoll gebaut ist, wie ich es bin.“ Er sah sie erneut nachdenklich an. „Sagt dir das Vorrecht des ersten Handels etwas?“
„Ah, ich verstehe. Hat der Hochlord es für sich in Anspruch genommen?“
„Dieser Nedeam? Ja.“
„Bei der ersten Begegnung mit einem neuen Volk oder Händler kann der Hochlord das Recht beanspruchen, den ersten Handel zu tätigen. Kein Händler darf ihm zuvorkommen. So kann der Hochlord entscheiden, was er als nützlich für die Mark erachtet.“
„Er zeigte kein sonderliches Interesse an unserem Kristall“, seufzte Wolkenbezwinger. „Obwohl wir die letzten Reste zusammenkratzten und unsere Hoffnung darauf setzten.“ Prompt errötete er. „Oh, das hätte ich jetzt nicht sagen sollen, nicht wahr? Ah, ich bin wahrhaftig kein Händler. Wie heißt es immer so schön? Schwingenflieger, bleib bei deinen Flügeln.“
„Ach, gräme dich nicht. Auch ich bin kein wirklich guter Händler, da ich eigentlich unser Unterwasserschiff führe. Zudem hat es nicht viel zu bedeuten, wenn Nedeam kein Interesse zeigt. Er ist ein erfahrener Handelspartner.“
„Ja, anders als ich“, lachte der Zwerg auf und Leriana stimmte ein.
„Ihr benötigt Blaukristall?“, hakte Leriana nach. „Wirklich, du kannst es mir anvertrauen. Das Wasservolk und das Handelshaus Leri, dem mein Vater vorsteht, sind für fairen Handel bekannt.“
Er seufzte vernehmlich. „Blaukristall und vor allem Stoff und Tauwerk. Wir hatten einige Zeit keinen Handel mit einem Landvolk und erlitten Schäden in mehreren Stürmen. Dann der Angriff der Scharfschnäbel … Ah, wir müssen viele Dinge ersetzen.“
„Und ihr sorgt euch, diese Dinge nicht zu bekommen?“ Leriana deutete um sich. „Dies hier ist die Landmark des Hochlords Nedeam. Ich bin ihm zwar noch nicht persönlich begegnet, doch ich weiß, dass er euch helfen wird. Er ist ein guter Herr seines Volkes und hilft jedem, der unverschuldet in Not geraten ist. Doch auch wir können euch helfen. Unser Tauwerk aus Tang ist für euch wahrscheinlich nicht geeignet, da es in der Sonne trocknet und brüchig wird, und Stoffe haben wir im Augenblick auch nur wenig. Doch Blaukristall haben wir und wenn mein Vater von eurer Lage erfährt, dann wird er euch davon geben und einen günstigen Gegenwert in Rechnung stellen. Äh, was könnt ihr bieten?“
„Wir fertigen die besten Lichtsammler aus Blaukristall und ausgezeichnete Kristallspeicher, deren Energie hoch ist und lange hält.“ Er zog verlegen an seinen Bartzöpfen. „Viel ist es wohl nicht … Doch wir können euch auch Informationen bieten. Alles, was sich aus der Sicht einer Flügelschwinge erblicken lässt.“
„Nun, guter Herr Wolkenbezwinger, vielleicht sollten wir meinen Vater und eure Handelsmeisterin ins Gespräch bringen.“
Er grinste erfreut. Vielleicht wendete dieser Tag das Schicksal der Wolkenstadt doch zum Guten.
Der Nordwall, nördliche Befestigungsmauer der Grenze zum Barbarengebiet
Dampfmaschinen betrieben die Plattformen, die Material und Truppen auf die Wallkrone hinauf oder zum Boden hinunter transportierten. Die zahllosen Stufen der immer noch vorhandenen Treppen waren nun dem Fall vorbehalten, dass eine der Winden ausfiel. Doch das war nur sehr selten der Fall, denn inzwischen besaß das Pferdevolk viel Erfahrung im Umgang mit der Kraft des Dampfes und dessen Nutzung.
Vor drei Wochen war es zur ersten Begegnung mit den Bewohnern der Wolkenstadt gekommen und es war gelungen, den Handel zu beiderseitiger Zufriedenheit zu tätigen. Nedeam kannte den Stolz der kleinen Herren, wie man das Zwergenvolk gelegentlich nannte, und es war ihm gelungen, ihnen verständlich zu machen, wie wertvoll die Hilfe ihrer Schwingenflieger für die Landmark war. Vielleicht hatte es zuvor Zweifel gegeben, doch Nedeam hatte Stadtmeister Barbrot Himmelsherr und den Befehlshaber der Zwergenkämpfer, Axtmeister Grimmbart Hartschlag, zu einer Besichtigung des Walls eingeladen.
Nun waren die beiden Zwerge, Nedeam und Antarim mit einer der Aufzugsplattformen auf die Mauerkrone emporgefahren. Die beiden Menschen ließen den Anblick, der sich ihren Gästen bot, auf diese einwirken.
Der Wall war eine beeindruckende Konstruktion. Er erstreckte sich über zwanzig Tausendlängen und sperrte die gesamte Breite des einzigen benutzbaren Passes, der die beiden Teile des Kontinents miteinander verband. Rechts und links von ihm erhoben sich massive Gebirgszüge, die unpassierbar waren. Die wenigen Pfade, die es dort gegeben hatte, waren mit Muskelkraft und der Gewalt von Berstpulver zerstört worden. Dennoch gab es eine Kette von Beobachtungsposten, die auch die Berge im Blick behielten.
Der Wall war aus einer Mauer von kaum fünf Längen Höhe entstanden. Als diese errichtet worden war, kam es zu kleineren Scharmützeln mit den Walven, doch schon dieses erste Hindernis hatte sich bewährt. Nun war der Wall eine fast dreißig Längen hohe Wand, an ihrer Basis ebenso dick und oben immerhin noch zehn Längen stark. Im Grunde bestand dieses Hindernis aus zwei Wänden, die jeweils fünf Längen stark waren. Zwischen ihnen waren Erdreich und Sand eingefüllt worden. An der Vorderseite war der Wall ganz leicht nach vorne geneigt, nach hinten fiel er in steilem Winkel ab. Dort waren die Treppen und die Führungsschienen der Dampfaufzüge angebracht.
Oben besaß die Mauerkrone eine Brustwehr mit zahllos scheinenden Schießscharten. Diese Öffnungen waren hinten eng und weiteten sich nach vorne in breitem Winkel, so dass ein Schütze nur ein kleines Ziel bot, er selbst jedoch über ein großes Schussfeld verfügte. Pfeil und Bogen oder Berstpulvergewehr der Gardisten konnten hier ihre verhängnisvolle Wirkung zeigen.
Doch neben den Bogen und den Berstpulvergewehren der Fußgarde verfügte die Landmark noch über eine weitere tödliche Waffe: die Berstpulverkanone.
Einst waren weit tragende Geschütze mit Dampfdruck betrieben worden. Doch inzwischen kannte man das Geheimnis des Berstpulvers. Diese Mischung aus Holzkohle, Schwefel und Salpeter mochte beim Abschuss zwar übel riechen, auf der Zunge und in den Augen brennen und braungelbe Wolken von Pulverdampf erzeugen, doch sie hatte einen enormen Vorteil gegenüber dampfbetriebenen Waffen: Man konnte sofort feuern und musste nicht erst warten, bis der erforderliche Dampfdruck aufgebaut war.
Nun standen schwere Berstpulverkanonen in regelmäßigen Abständen auf der Mauerkrone. Sie konnten massive Geschosse über viele Tausendlängen hinweg auf einen Feind werfen.
Barbrot Himmelsherr empfand durchaus Bewunderung für die bauliche Leistung der Menschen, doch zugleich konnte er auch ein Schaudern nicht unterdrücken. „Bei der Höhe des Himmels und der Tiefe des Wasser … Hochlord Nedeam, ich bin froh, dass wir Zwerge in der relativen Sicherheit der Wolken leben. Dieser Wall hier und seine Vernichtungswerkzeuge … Sie sind schrecklich.“ Er musste sich ein wenig recken, um auf die Einfassung einer Schießscharte schlagen zu können. „Ich weiß, Ihr habt beides aus gutem Grund errichtet und das zeigt mir, wie schrecklich auch jene Wesen sein müssen, wegen denen Ihr all dies hier erschaffen habt.“
Bei Grimmbart Hartschlag hob sich kurz eine der Augenbrauen. Im Gegensatz zum Stadtmeister sah er Waffen mit dem Pragmatismus eines Axtschlägers. „Jedenfalls ein massiver Wall, der jeden Gegner aufhalten dürfte.“ Er deutete auf einen langen Hebel, der aus einer Nute im Boden ragte. Alle paar Längen befanden sich identische Vorrichtungen. „Diese Stangen … Was ist ihr Zweck?“
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