»Wann wirst du uns deine Cassy vorstellen?«, fragt Greta in sein Grübeln hinein. Das spricht für die Mutter. Sie ahnt, worauf er an diesem Tag verzichtet, Elli zuliebe.
Pepe braucht ein paar Sekunden; mit dieser Frage hat er an diesem Morgen nicht gerechnet.
»Wenn ich weiß, dass sie die Richtige ist, Mama.«
Greta nickt. Ihren Stolz kann Pepe nicht sehen. Am liebsten würde sie ihm raten, heute mit Elli über das Mädchen zu reden. Elli ist eine Menschenkennerin, und es würde sie freuen, gefragt zu werden — gerade von Pepe. Vermutlich würde sie meinen, es gebe nichts, was spurlos an ihr vorbeigehen dürfe. Aber der Junge ist inzwischen erwachsen und Elli hat ihre Pflicht und Schuldigkeit längst getan.
Das Telefon läutet. Greta springt sofort zum Flur, wo auf dem Bänkchen die Festnetzstation blinkt.
Das «Hallo» klingt denkbar kurz, und ehe sich Pepe auch nur umdrehen kann, liegt der Hörer wieder auf der Station.
»Es geht los«, sagt die Mutter etwas widerwillig. Offenbar hätte sie gerne mehr Worte von Elli gehört.
Pepe erhebt sich und geht auf seine Mutter zu. Wie stets verabschiedet er sich mit einem Kuss auf die mütterliche Wange.
»Ruf an, wenn ihr angekommen seid!«, ermahnt sie ihn wie immer, wenn er unterwegs ist.
»Klar Mama. Ciao…bis dann…«
Als Pepe mit seinem Auto rückwärts aus der Garage stößt, die bis vor Kurzem zu Ellis Grundstück gehörte, und gleich daneben wieder die Einfahrt zu Ellis Haus nimmt, hört er drinnen das Telefon klingeln. Er kennt Ellis Telefon und er kennt den Ton genau, den sie als Klingelton eingestellt hat: Wachet auf, wachet auf, es kräht schon der Hahn!
Ohne Elli würde er das Lied nicht kennen. Auch das hatte sie ihm vor einigen Jahren einmal vorgesungen, so, wie sie ihn Gedichte lehrte oder mit Büchern versorgt hat, die er ohne Elli nie gelesen hätte, was immerhin zu bedauern wäre.
Noch hört er die Melodie, aber Elli erscheint winkend an der Haustür. Pepe springt hinzu, um der alten Dame, die er seit Cassys Entsetzen nicht mehr Tante Elli nennen kann, beizustehen. Sie lächelt und zeigt zum Vorraum, wo der Koffer steht. Um das läutende Telefon schert sie sich nicht. Mit der Rechten schiebt sie ihr hellbraun-meliertes Haar hinter das Ohr, mit der Linken fährt sie ungeduldig durch die Luft, weil sein fragender Blick sie streift.
»Wer sich bis jetzt nicht um mich geschert hat, muss es nun auch nicht mehr…«
Solange Pepe den Koffer in den Wagen hievt, schließt Elli die Haustür ab. Das Schlüsselbund nimmt sie nicht an sich. Sie drückt es wortlos in Pepes Hand und zieht ihren Kopf hinüber zum Haus seiner Eltern. Das ist Anweisung genug, zumindest nach Ellis Art. Also haben die Frauen für Ellis Abwesenheit alles ausführlich besprochen, nur seine Mutter spielt mal wieder die Verschwiegene wie so oft im Leben? Manchmal glaubt er, heimliche Blicke zwischen den Frauen hin und her huschen zu sehen, merkwürdige Blicke, heimliche, verschworene.
Elli Wahlstedt wirkt in ihrem seidenen schimmernden Kostüm und dem exakten Blusenkragen wie stets erhaben. Das kann ihn nicht täuschen. Pepe sieht genau, wie Elli vom Nebensitz aus bekümmerte Blicke über die Hausfassade streichen lässt, über den Hof mit den blühenden Rhododendren, mit der Linde, unter der die grün-lackierte Gartenbank steht, deren Farbe langsam zu bröckeln beginnt. Auch die dunklen Koniferen und die bunt bepflanzten rostroten Töpfe aus Terrakotta— alles friedlich beschienen von der Morgensonne — streift ihr trüber Blick. Zumeist, wenn er sie einmal fuhr, strich sie liebevoll über die Armatur «ihres» Autos, als liebkoste sie ihren Richard oder die alten Zeiten oder weiß der Fuchs, woran ein alter Mensch dabei denkt. Ihm war es dann peinlich, ein solches Geschenk angenommen zu haben. Sie hätte das Auto schließlich auch verkaufen oder in der Familie weitergeben können. Das ist auch Mutters Meinung, aber Vater wiegelt mit selbstverständlicher Miene ab: Sie wird ihre Gründe haben…
Mit einer zackigen Handbewegung befördert Pepe Ellis Schlüsselbund in das Handschuhfach, untermalt mit den Worten: »Wir werden die Pflanzen nicht verdursten lassen.«
Im nächsten Moment wird ihm eiskalt. Zugleich treten winzige Schweißperlen auf seine Stirn. Elli wischt mit einem Tuch unter den Augen entlang. Das kennt er von Elli Wahlstedt nicht. Sie war immer beherrscht und nie mit sich selbst beschäftigt.
»Wenn Sie wiederkommen, werden die Dahlien vielleicht schon blühen«, sagt er schnell. Dann ist wieder Stille. Nur der Motor gibt langsam Fahrt und das Auto rollt von der Einfahrt auf die Dorfstraße, biegt nach rechts, weil sie nur in dieser Richtung aus dem Vorspreewald zu den größeren Straßen führt.
»Wann kommen Sie zurück…?«
Elli hebt ihre Hand, aber ein Ton löst sich nicht von ihren Lippen. Dafür leckt Pepe mit der Zunge seine Lippen. Sein diskreter Blick huscht nach rechts: In Ellis Augen liegt ein fremdes Flackern.
Sie nähern sich dem Kreisverkehr: »Wohin soll die Reise gehen?«
Elli hat Mühe zu sprechen, das kann er spüren.
»Keine Fragen, Pepe. Ich sage es dir immer rechtzeitig.« Um Fassung ringend fügt Elli an: »Zweite Ausfahrt.«
Also in Richtung Stadt, nicht zur Autobahn?
Wie alt mag Elli sein? An die achtzig Jahre. Bei den Dorfleuten geht sie beinahe noch als sechzigjährig durch. So hat er es seine Mutter zumindest zu Vater sagen hören. Man munkelt in der Nachbarschaft, sie habe etwas getan für ihren ewigen Jungbrunnen, aber Elli hat nur darüber gelächelt und gesagt: »Lasst sie reden. Es muss auch Menschen geben, die uns beweisen, dass der Schöpfer nicht unfehlbar war.« Nicht einmal Vater hat Ellis Worte verstanden.
Elli könnte seine Großmutter sein, denkt er gerade, als Ellis Stimme fest und keinen Widerstand duldend, heraus schmettert: »Und eines sage ich dir, Pepe. Wenn du noch einmal Sie zu mir sagst, steig ich aus. Sag einfach Elli, wie du es als Kind getan hast — ohne Tante, versteht sich. Alle Menschen, die man mag, bekommen Privilegien. Du hattest immer die größten…Das weißt du seit Langem.«
Zum Glück hat sie nicht gesagt: Sonst hätte ich dir das Auto nicht überlassen. Überlassen, sagt Elli, weil sie ihm damit nicht das Gefühl gibt, er müsse ihr dankbar sein. Überlassen heißt nicht, es zu besitzen. Es heißt, etwas zu nutzen, damit es nicht verrottet. Und er nutzt Ellis Großzügigkeit nur allzu gerne, aber daran in seiner heutigen Mission erinnert zu werden, würde ihm nicht gefallen.
»Entschuldige, aber das Du fällt mir immer schwerer. Sie … Du könntest immerhin…«
»Wer hat dir das eingeredet?«, sagt sie kratzig, als wüsste sie von seinem Gespräch mit Cassy.
»Stell dir mal vor, ich war auch einmal jung und hatte Flausen im Kopf wie du…«
»Genau das kann ich eben nicht … mir das vorstellen.«
Eine Zeitlang gleitet ihr Blick ungezielt über die grünen Flächen eines brachliegenden Feldes, auf dem sich in der Ferne ein Rudel Rehe tummelt. In deren Mitte ein Albino, das offenbar wegen seiner Auffälligkeit vom Rest der Familie beschützt wird.
Ganz anders als in einem Dorf, wo die Auffälligen ausgestoßen werden.
»Da. Siehst du? Da, wo die Rehe mit dem weißen Kitz stehen, da entlang führte früher unser Radweg.« Elli atmet schwer. »Als wir noch in der Stadt wohnten, zog es uns jeden Tag hinaus in die Natur. Drei Stunden am Nachmittag. Noch als wir schon siebzig waren…«
»Als Sie siebzig waren …«
»Als du siebzig warst — das haben wir doch abgemacht. Hast du beschlossen, mich zu ärgern oder lernt man in jungen Jahren wirklich so schlecht?«
»Ja gut. Ich weiß doch aber, vor zehn Jahren waren wir immerhin schon ein paar Jahre lang Nachbarn.«
»Vor zehn Jahren hattest du noch keinen Blick für diese Dinge. Wir sind bis kurz vor Richards Tod noch mit dem Rad gefahren. Täglich. Und wir hatten unseren Spaß dabei. Weißt du, er hatte Marotten wie alle Männer sie vermutlich haben. Richard war ein Waldrandpinkler.«
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