Irgendwann hatte Elli ihr geflüstert, dass nicht Richard mithalf, den Kleinen zu betreuen, sondern der Kleine den unbeugsamen Richard umzukrempeln verstand. Und sie meinte, ihr sei ein Stein vom Herzen gefallen, als sie sah, wie viel Mühe sich Richard mit Pepe gab. Die Spielkameraden könnten sie beide Pepe nicht ersetzen, aber sie nähmen sich viel Zeit, sie hätten ja mehr davon als Axel und Greta.
Elli konnte sie noch immer nicht recht durchschauen, aber von Richard Wahlstedt wusste sie, er stichelte gern. Darum galt er für alle Welt als ironisch. Er nahm die Sorgen der Menschen mit Vorliebe auf die Schippe und mahnte doppelzüngig, wie viel schlimmer das Leben sein könnte. Nur wenn er mit denselben Worten zu dem Jungen sprach, hatten seine Augen einen anderen Glanz bekommen, einen sanften, fast wehmütigen. Pepe erkannte den Unterschied nicht, aber seine Mutter weiß um die Wandlung des Nachbarn. Kaum jemand im Dorf wusste so genau, ob Richard die Menschen oder die Dinge bespöttelte. Manchmal erkannte sie, dass die beiden Wahlstedts verschiedener gar nicht sein konnten. Die eindeutige Elli, der zweideutige Richard.
Würde sie Elli nicht besser kennen, könnte sie ebenso glauben wie die Leute im Dorf, die Wahlstedts seien erhaben, selbstsicher. Freilich hatte sie Ellis resolute Art einmal unterschätz. Sie hatte geglaubt, alles, was sie damals verband, geschah aus Ellis Eigennutz. Heute weiß sie, dass nicht Ellis, sondern ihr ganzes Glück von Ellis Idee geschmiedet war. Elli war nicht so erhaben wie gedacht. Ihre Friedfertigkeit zerbrach durch nichts, nicht einmal durch dörflichen Klatsch. Für Tränen des Jungen fand sie ebenso tröstende Worte wie für Gretas Sorgen und Freude. Einen von Ellis Sprüchen mochte sie dennoch nicht: Ein Kind ist die sichtbar gewordene Liebe.
Damit hatte Elli womöglich Recht, aber eben nicht in ihrem Falle, was so viel heißt wie: Nicht von Anfang an.
In Metaphern sprach Elli schon gerne, als Greta noch gar nicht wusste, was eine Metapher ist. Ihre Worte schürten eine Sorte Hochachtung, die Elli als Wunsch nach Distanz verstand. Manchmal brauchte es nur ein bisschen Zeit, um sie zu verstehen:
Wer kein Kind hat, der hat kein Licht in seinen Augen…
Für Elli schienen diese Worte nicht gemacht. Sie hatte nie Kinder, aber ihre Augen leuchteten oft. Für Greta und Axel Hanschke waren Ellis Worte zu den treffendsten geworden.
Als falle Greta aus einem Wachtraum, wütet auf einmal eine Frage in ihr: Warum war Elli vor Kurzem so unnachgiebig, so rigoros? Das war sie in all den Jahren nicht. Wenn eine Wahrheit verletzt, verschweige sie! Das sind Ellis Worte über das Leben im Dorf. Warum sollten sie für Pepe nicht gelten?
Etwas liegt in der Luft. Warum kommen ausgerechnet heute so lästige Gedanken? Es ist nicht das erste Mal, dass Pepe eine lange Zeit mit Elli verbringt. Seit Kurzem spürt das Mutterherz eine ungewisse Gefahr. Dass sie ausgerechnet von Elli kommt, ist neu.
»Sie wollte doch anrufen?«, sagt Pepe, ohne sich nach seiner Mutter umzudrehen.
Greta ist erleichtert. Er fragt sie nicht, was Elli vorhat, wohin sie will. Es ist ihr diesmal peinlich, es auch nicht zu wissen. Gute Freundschaft wüsste um die Sorgen des anderen. Bis vor Kurzem haben sie sich nie bedrängt, etwas zu erzählen. Ihre Freundschaft beruhte auf großer Toleranz. Diese Grenze hat Elli unlängst überschritten, das sieht auch Axel so.
Seit diesem Tage hatten sich Greta und Axel Hanschke Abstand von Elli geschworen. Ob sie es ernst meinten, oder nur enttäuscht waren, blieb ungesagt. Immerhin war es der Grund, Elli nicht nach dem Ziel ihrer Reise zu fragen. Sie muss es schließlich Pepe verraten, bevor sie losfahren, und irgendwie erfährt sie es dann auch — früher oder später, was macht das schon. Die Stille in letzter Zeit zwischen Elli und ihr beunruhigt Greta allemal. Wenn Elli früher einen Urlaub plante, dann war sie innerlich aufgeregt und plauderte mal über das eine und mal über das andere.
Vielleicht hat sie einen neuen Mann gefunden?
Greta schlägt eine Hand an die Stirn. Ein neuer Mann! Dass sie daran nicht gedacht hat. Elli ist noch immer schön. Und sie hatte schließlich ein paar komische Worte gesagt … ? Die Liebe ist so vergänglich wie die Angst vor dem Sterben.
Vorsichtshalber hatte sie Pepe vorgewarnt: Es wird bestimmt keine kurze Fahrt. Schönefeld oder Tegel, vielleicht auch Dresden oder Leipzig. Irgendetwas von «aufsteigen» hatte Elli gemurmelt.
»Elli wird genau wissen, wann ihr losfahren müsst. Sie ist in diesen Dingen eigen.«
Pepe nickt. Er ist Elli diesen Dienst schuldig, wenn sie es auch niemals selbstlos erwarten würde. Hätte er damals das Auto nicht von Elli »übernommen«, er hätte nicht viel von der Welt gesehen. Und er wäre vermutlich niemals Cassy begegnet, oder Cassy hätte ihn schlicht übersehen.
Seine Gedanken sind sofort bei diesem verrückten Mädchen. Cassy macht ihn an, wie bisher kein anderes Mädchen. Und sie macht es ihm leicht. Dennoch fehlt irgendetwas an ihrer Liebe, was Pepe nicht in Worte kleiden kann. Einmal, als sie sich im Auto geliebt haben, hatte er danach zwangsläufig von Elli gesprochen. Wer weiß, wo sie sich hätten lieben müssen ohne Ellis Auto? In einem Hinterhof? An einem Flussufer?
Warum hatte Cassy nach so viel Glück sofort ein Klischee auf der Zunge? Sie kennt Elli nicht, hat sie noch nie gesehen. Sie weiß nur, dass sie die Nachbarin ist und schon ziemlich alt.
Cassys Art, über Alte zu urteilen, ist nicht selten unter seinen Freunden. Zugegeben, mit renitenten Alten hält es Pepe ebenso, sofern er sie einschätzen kann. Aber Elli ist weder renitent, noch einfältig oder gebrechlich, weder vergesslich noch schulmeisterlich. Elli ist irgendwie anders… Nicht bewundernswürdig. Das könnte Pepe nicht begründen. Seine Haltung zu Elli liegt vermutlich am Vergleich mit seiner Großmutter väterlicherseits, Hermine. Es gab keinen Zweifel, sie mochte ihren Enkel nicht. Sogar Mutter Greta nahm Oma Hermine in Schutz. Das war ungewöhnlich. Gewöhnlich galt die Regel vom gleichen Blut bei seinen Eltern, wenn sie über Zank und Streit im Dorfe lamentierten. Nicht alle Familien waren verschworen. Es gab Missgunst und Neid und manchmal hatte Pepe das Gefühl, er habe davon ein Quäntchen auch in seinem Blut.
Wenn Elli — schon höher betagt als seine Großmutter Hermine — mit dem Auto wegfuhr, hielt Pepe es für ungerecht. Er hatte nur das Fahrrad für die zehn Kilometer bis zur Stadt. Als er schließlich das Geld für ein Motorrad zusammen hatte, kam Elli zu ihnen herüber und fragte erst die Eltern, bevor sie ihm das unglaubliche Angebot machte. Unverhofft.
»Lass das mit dem Motorrad. Mein Auto gibt dir mehr Schutz…«, hatte sie gesagt.
Seit dem Tag sieht er Elli Wahlstedt mit dankbaren Augen, auch wenn ihm der Grund seiner Dankbarkeit hin und wieder peinlich ist, gerade vor Cassy. Sie hatte zu seinen Bedenken einen Spruch auf den Lippen, den sie irgendwo gelesen haben musste: Die Dankbarkeit ist in den Himmel gestiegen und hat die Leiter mitgenommen. Er hatte dazu geschwiegen, aber diese Worte passten zu Cassy, die immer den einfachsten Weg suchte, nie den klügsten.
Was Richard zu einem solchen Mädchen gesagt hätte, kann er sich leicht vorstellen: Es ist kein Wunder, dass die Weltherrschaft von so viel Dummheit begründet ist, wenn man glaubt, der Klügere gibt besser nach.
Wie mögen die beiden miteinander ausgekommen sein? Die wenigen Bilder in Ellis Haus sprechen eine deutliche Sprache. Er kennt sie aus seinen Kinderzeiten nicht, aber als Kind hätte er kein Bild richtig gedeutet. Elli muss die Bilder erst nach Richards Tod aufgehängt haben, um ihn immer bei sich zu spüren. Was für eine Liebe!
Elli war einmal schön. Die Kerben in ihr Gesicht hatten weder eine unglückliche Ehe noch elterlicher Frust gezeichnet. Etwas anderes hatte sie in kurzer Zeit bewirkt und zugleich das Leuchten aus ihren Augen geraubt, das Pepe als Junge sehr oft zu sehen bekam. Für dieses Leuchten hat er Ellis Kinder beneidet, ohne ungerecht gegen seine Mutter sein zu wollen. Die Frage, ob Elli und Richard überhaupt Kinder haben, stellte er nie.
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