Hinter der blühenden Hecke bleiben zwei Frauen aus dem Dorf stehen. Sie stecken die Köpfe zusammen, schauen abwechselnd zu Ellis Fenster und dann wieder zum Briefkasten. Die eine hält ein bräunliches Papier in der Hand. Sie zögert, es in den Briefschlitz am Gartenzaun zu zwängen.
Elli wendet ihren Kopf und nimmt die schärfere Brille aus dem Etui. Sie glaubt, ihren Augen nicht trauen zu können. Diese Frau, diese Elfriede Strunz, hegt seit Jahren einen stillen Groll auf Elli. Sie kann nicht ertragen, dass ihr Mann Kurt seit Richards Tod der fremden Elli Wahlstedt zur Hand geht. Sie bittet ihn nur selten; nur wenn es handwerklich etwas Kniffliges zu erledigen gilt oder die Hecke zum Nachbargrundstück zu üppig geworden ist.
Was ist jetzt Elfriedes Problem? Das alte, das sie einst von Kurt erfahren hat, kann es nicht mehr sein. Man zerriss sich seit Jahren das Maul, weil sie mehrmals im Jahr mit Richard in den Urlaub fuhr. Bisweilen nahmen sie Pepe mit, sofern gerade Ferien waren.
Die Zeit mit Pepe ist längst vorbei. Von Kurt aber weiß sie, dass sogar Greta Hanschke unter dem Verdacht der Leute gelitten hat, sie käme mit dem Kind nicht zurecht, weshalb die Wahlstedts den Jungen mit in den Urlaub nähmen. Darüber gesprochen hatte Greta nie. Freilich klatschten nur jene Frauen, die in den Häusern wohnen, die man seit Generationen weitervererbt. Die Zugezogenen, wie Greta Hanschke eine ist, tuscheln nicht. Und das liegt nicht an der Sache mit dem Jungen, die keiner im Dorf weiß; die keiner wissen sollte.
Elli ist aus einem Holz geschnitzt, das langsam wächst. Wohl deshalb ist es fest und knorrig wie sie. Mit sichtbaren Kerben, aber ohne verschrobene Vorurteile, die den Alteingesessenen die Nahrung zu ersetzen scheinen. Von dieser Frau da draußen hatte Greta ihr noch anderes gesteckt, etwas, was Greta nur schwer über die Lippen bekam: Dieses Dorf vertrage keine Stadt-Madame. Keine Modedame, kein Porzellanpüppchen mit ebensolchen Händchen…
Greta hatte diese Worte mit Wehmut herausgepresst und sich sofort entschuldigt. Sie habe ihre Meinung über Elli schließlich nicht sagen können, Elli wüsste schon warum.
Oh ja, sie weiß warum und sie kann Greta bis zu einem gewissen Punkt verstehen.
Was also will diese Frau ihr jetzt mitteilen? Weiß sie womöglich, dass es die letzte Chance wäre, sofern es etwas Wichtiges zu sagen gibt? Etwas gutzumachen? Eine Flut von Erinnerungen längst vergessener Episoden drängt sich in Ellis Kopf. Bilder, die ihr so vertraut sind und doch so wenig erbaulich.
In dieses Dorf waren sie gezogen, als sie noch uneins waren, was den Jungen betraf.
Dem Bürgermeister hatte Richard gesagt, es habe ihn genervt, wenn schon vor dem Hellwerden der notwendige Lärm in der Stadt losging und wenn lange nach dem Dunkelwerden der überflüssige kein Ende nahm. Seine Begründung, warum er es vorzog, auf dem Dorf zu leben, war nicht bewiesen: In einem Dorf lebe es sich besser, es sei alles familiärer und jeder achte auf jeden, was dem Alter nur zuträglich sei. Elli hatte ihm sein Argument gelassen. Sie selbst hätte so denken können wie er, wäre sie in der Stadt geblieben. Jetzt weiß sie es besser: Man muss geboren sein für ein Dorf, oder man muss die Außenseiterrolle mögen.
Er hatte den Umzug mit ihr besprochen und gemeint, das Dorf könnte für sie beide ein Weg sein, um Ruhe zu finden, was jeder darunter verstehen mag. Sie hat ihre Ruhe nicht gefunden, aber sie hatte bald ihre innere Freude, ihren Ersatz gegen einen kleinen Kummer, gleich nebenan.
Richard wusste nichts davon, wie sie die Dinge arrangiert hat. Aber er hat es sich denken können und er hatte all die letzten Jahre seines Lebens selbst seine Freude an dem Kind.
Dieses Dorf versteht sich als ein Dorf wie jedes andere; und in der Tat ist es das. Nicht jeder verträgt sich mit jedem, zwischen den Gehöften wuchert heimliche Zwietracht wie Unkraut neben überschwänglich gezeigter Harmonie und Eintracht. Wenn aber jemand von außen in ihre Gemeinschaft eindringt, dann halten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
Was kann ihr das Dorf jetzt noch?
Elli beschließt für sich: Es ist besser, in Frieden zu gehen. Warum sollte sie diese Frau nicht von ihren Nöten befreien? Wenn sie etwas zu sagen hat, dann ist jetzt die letzte Chance…
In vorsichtigen Schritten durchquert sie das Haus. Das schwere Holz ächzt beim Öffnen der Tür. Hinter der Hecke hastet die Frau an den Büschen vorbei, so rasch, wie früher ihre Lügen über Elli das Dorf durchquerten. Ob sie den Brief in den Kasten geworfen hat, weiß Elli nicht, und sie will es auch nicht wissen. Jetzt nicht mehr…
Den Weg zum Briefkasten geht Elli nicht. Keine Nachricht soll an ihrem heutigen Plan etwas ändern.
Pepe Hanschke trinkt bedächtig seinen Kaffee, während Mutter Greta mit dem Rücken am Küchenbuffet lehnt und ihren Sohn beobachtet. Sein helles, leicht gelocktes Haar fällt in die Stirn, sein weicher Mund ist weiblicher als der von Axel oder anderen Männern die sie kennt. Auch ist er gelehriger als Axel je war. Nur sturer ist er, dafür kann er nichts.
Zum Glück ist er nicht ausgeflippt, weil er einen seiner freien Tage für die Nachbarschaft hingeben soll. Für jeden aus der Nachbarschaft würde er den Samstag nicht unwidersprochen opfern, aber für Elli Wahlstedt…
Vielleicht liegt da ein unsichtbarer Zauber?
Greta kennt Elli seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Erst flüchtig, dann besser. Sie haben nicht direkt zusammen gearbeitet, aber sie gehörten zu einem Betrieb. Elli leitete die Öffentlichkeitsarbeit, sie selbst saß am Tresen und verkaufte Tickets oder kleine Souvenirs, die seinerzeit noch spärlich vorhanden, aber umso begehrter waren.
Zuerst hatte sie keine Meinung über Elli Wahlstedt. Im Dienst schrieb man ihr eine hohe Kompetenz zu. Wenn sie Elli begegnete, fühlte sie sich klein und unbedeutend. Später stellte sich heraus: Elli kannte ihre Mutter Rosel sehr gut, aber die ist schon zur Wendezeit verstorben. Einmal erzählte Elli davon, wie sie mit ihren Kolleginnen Rosel und Margitta den Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft mit den Soli-Marken ausgetrickst hatten. Und dann erzählte sie vom plötzlichen Tod der Margitta und was es mit deren Tochter Elvira auf sich hatte. Es war nicht schwer zu erkennen, warum Elli jetzt ein Problem hatte.
Dieses Gespräch änderte Gretas Meinung über die Frau, die bei einigen Kollegen als erhaben galt. Dennoch kam Ellis Problem so schlagartig auf sie zu, dass sie kaum zum Nachdenken gekommen ist. Elli hatte zuerst mit ihr nur über eine schwere Entscheidung geredet. Ganz allgemein, aber unter Verschwiegenheit. Ob zufällig oder beabsichtigt, das war bald nicht mehr zu ergründen. Für den Moment wunderte sie sich nur. Es war nicht vorstellbar, was Ellis Sorgen bedeuteten, aber es war einleuchtend, dass sie, Greta, niemandem davon erzählen sollte, bis die «Sache» abgeschlossen sei. Verstehen konnte sie Ellis ernstklingende Entscheidung nicht.
Wie sich nach Monaten herausstellte, war Elli nicht mehr jung genug für das, was sie vorhatte. Folglich gab es einen Rückschlag, der die Erfolgsverwöhnte schwer getroffen hatte. Was blieb ihr und Axel also? Elli konnte Menschen überzeugen…
Sechs Jahre lang wurden sie heimlich Verschworene, bis Elli in den Ruhestand ging und auf das Dorf zog. Ein paar Monate später erhielt sie, Greta, den Anruf, auch das Nachbargrundstück mit viel Hinterland sei zu haben – ebenfalls von einem, der vom Balaton nicht wiedergekommen sei. Man wusste, was damit gemeint war, aber man scheute sich gerade deshalb vor dem Erwerb. Als sie sich das Grundstück dann anschauten, wussten Axel und auch sie, wie vortrefflich es sich für ein heranwachsendes Kind eignete. Zu dieser Zeit ging Pepe schon in die zweite Klasse. Das Stadtkind hatte Probleme, mit dem dörflichen Leben zurechtzukommen. Das spürten auch Elli und Richard, der immer wusste, was gut war für das Kind. Als pensionierter Lehrer hatte er noch immer ein passendes Wort auf der Zunge, wusste genau, was einen Jungen dieses Alters bewegte. »Predigen macht auf ein Kind keinen Eindruck. Bei der Erziehung muss man sich besinnen, dass nichts, was von Wert ist, mit Worten gelehrt werden kann.«
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