Heute haben die Frauen, die Schwalben aus Prinzip verehren, kein Gespür für deren Not. Heute sind sie mit einer anderen Sache befasst, erfüllt, fast benommen. Das Neueste erfährt man immer durch Zufall. Seit Jahren ersetzt der Friedhof den einstigen KONSUM, den ihnen die Zeit genommen hatte. Früher konnten sie sich dort einander mitteilen oder auch nur zuhören. Es gab immer jemanden, der etwas zu berichten hatte. Ihren geliebten KONSUM der Helga Regel gibt es nicht mehr — schon fünfzehn Jahre. Das Grab der Helga liegt an der Hecke, da, wo der Kurt gerade noch am Werken ist. Deshalb kann Vera in Ruhe berichten. Sie ist Helga Regels Tochter und erfüllt ihre Pflicht seit acht Jahren an Mutters Grab. Es gibt kein Zuviel. Es gibt nur ein Zur-rechten-Zeit. Jeder im Dorf hat ein besonderes Gespür für die rechte Zeit vom Bepflanzen bis zum Abdecken kurz vor dem Schnee.
Kurt Strunz schneidet die Hecke mit Akribie, und das nicht nur hier. So manch einer in der Gemeinde möchte von seinem Geschick etwas abhaben, aber der dörfliche Stolz lässt jeden selbst zur Schere greifen. Nur Elli Wahlstedt greift gerne auf Kurt zurück, seit ihr Richard vor fünf Jahren auf dem Gottesacker seine Ruhe gefunden hat. Elfriede glaubte lange nicht, dass alles harmlos ist, wenn Kurt nach getaner Arbeit noch bei Elli sitzen bleibt und sie ihn zum Dank bewirtet. Einmal hatte das etwas Gutes. Elfriede erfuhr durch Kurt von Ellis Plan: Richards Grab sollte anders werden als alle Gräber hier. Ohne polierten Stein und ohne heuchelnden Spruch.
Über das «heuchelnd» hatte man sich die Mäuler zerrissen. Als ob die Leute im Dorf alles Heuchler oder gar Erbschleicher wären. Der Pfarrer hatte gemeint, ein Grab ohne Spruch sei christlich genug.
Elli hatte von der Tuschelei erfahren und wollte den Platz neben der kleinen Kirche plötzlich nicht mehr. Sie hat ihren Richard in der Stadt zur Ruhe gebettet.
Das alles ist jetzt fünf Jahre her. Was sollte man darüber noch lamentieren.
Elfriede schert als Erste aus dem Plauderkränzchen der Frauen aus. Kurt hatte ein Zeichen gegeben. Er hält vom Dorfklatsch nicht viel.
Das Blut rauscht in Elfriedes Ohren. Das Herz hämmert unangenehm. Wie soll sie bei Kurt nur beginnen? Er wird sie gleich fragen.
In angemessener Distanz bleibt sie stehen, zupft am Blatt einer Petunie und wartet.
Kurt Strunz ist ein besonderer Typ Mensch. Wenig kompliziert. Wenig dickfellig. Die Leute im Dorf haben kein Problem mit einem wie Kurt, sofern er nicht bei Elli schwadroniert.
Die Sonne scheint Elfriede ins Gesicht. Sie schließt für einen Moment die Augen: Vielleicht wäre es besser, Kurt die Sache mit Elli ganz zu verschweigen? Mit offenen Augen weiß sie, das bringt nichts. Nicht bei Kurt. Irgendwann kommt er dahinter, schließlich kennt sie Veras Mitteilsamkeit. Die Sache mit Elli Wahlstedt wird schnell im Dorf die Runde machen, ganz sicher. Das Dorf schläft nie. Dann würde Kurt ihre Heimlichkeit übel nehmen.
Sie kennt ihn zu gut. Seit Jahren leben sie ganz dicht beieinander, sieht man von wenigen Stunden ab, in denen Kurt einmal anderen Leuten im Dorf hilft. Elli zum Beispiel.
Im nächsten Moment legt Kurt die Schere auf die Hecke. Hier auf geweihtem Boden benutzt er stets die große Handschere. Hier ist Stille angebracht, wenn auch nicht in Grabes-Traurigkeit.
Gemeinsam raffen sie den Grünschnitt auf und tragen ihn zum Kompost, danach gehört der Tag allein Kurt und Elfriede.
Nach wenigen Stunden und vielen Worten von seiner Frau Elfriede kommt Kurt Strunz ins Grübeln. Noch nie hatte er auf Elli Wahlstedt etwas kommen lassen. Nach langem Schweigen weiß er, was zu sagen ist. »Wenn das stimmt, dann müssen wir etwas tun.«
Und Kurt Strunz tut etwas.
»Ich packe in meinen letzten Koffer…« Elli Wahlstedts Gedanken sind in ihrer Kinderzeit. Wie hatte sie das unendlich währende Gedächtnisspiel gehasst, weil sie nicht wusste, warum einer seinen Koffer packen sollte. Damals verreiste niemand. Erst recht wusste sie nicht, warum man sich all die Dinge merken sollte.
»Schuhe, Jacken, Röcke, Hosen, Taschen…« Ihre Finger zählen mit. Über die Lippen huscht ein winziges Lächeln.
Seit Richards Tod vor fünf Jahren war Elli Wahlstedt für kurze Zeit wieder mit sich selbst und mit der Welt im Reinen gewesen. Jetzt ist es Zeit auszubrechen. Abzubrechen. Auszusteigen…
Mit dem Jungen will sie fahren. Mit diesem Jungen, der nichts von alldem weiß, was sie seit über zwanzig Jahren bewegt. Schweigen ist manchmal eine große Schuld.
»Waschtasche. Jogginganzug. Die neuen Pantoffeln. Nachthemden.«
Ihre Hand schlägt sanft an die blasse Stirn, dann trapst sie noch einmal zum großen Wäscheschrank im Schlafzimmer und sucht nach einem ganz besonderen Stück, einem, das Richard einst in buntem Geschenkpapier auf ihren Geburtstagstisch gelegt hatte. Sie hat es nur selten angezogen. Ganz oben im hinteren Stapel muss es noch liegen. Die Höhe ist vermutlich der Grund, warum sie das Fach über Jahre missachtet hatte. In ihrem Alter vermeidet man — wenn es zu vermeiden geht — auf einen Stuhl zu steigen. Es gibt nicht viel, was man lassen kann, wenn man allein lebt. Heute bugsiert sie den Stuhl vor den Schrank. Fast kommt ein Glücksgefühl über sie, als sie den Hauch in rosa und mit Rüschen besetzt in ihren Händen hält. Sie legt ihn aufs Bett und lässt ihn dort liegen. Seltsame Gedanken kommen zu einer Zeit, wo sie nutzlos geworden sind:
Wie leicht konnte sie Richard zu einem Entschluss bewegen, den sie längst gefasst hatte. Diesen Entschluss — den Jungen betreffend — hatte sie Richard nach einer zähen Zeit seiner Weigerung in diesem Nachthemd abgerungen.
In ihren guten Jahren schliefen sie oft ohne jedes störende Textil. Diese Zeit ist lange vorbei und auch das, was diese Zeit ihr gegeben hat. Es gab Höhen und Tiefen. Es gab Lügen und Wahrheiten. Es gab Sorgen und Tränen, auch solche des Glücks. Es gab die Selbstüberschätzung und sogar Selbstbetrug. Es gab sichtbaren Wohlstand und dazwischen fast unbemerkt die scharf verleugnete Armut der Seele und des Geistes. Gegen letzteres hatte sie in jener Nacht gesiegt. Davon ahnt niemand etwas, das Nachbar-Ehepaar Hanschke ausgenommen.
Für eine gewisse Zeit war sie stolz auf sich gewesen, bis passieren sollte, was Richard vorausgesehen hatte.
Ihr Plan mit dem Jungen sollte schwieriger werden als gedacht. Diesen Rückschlag nutzte Richard für seinen Entschluss, aufs Dorf zu ziehen. Vermutlich glaubte er, sie würde den Jungen aus den Augen verlieren und endlich zur Ruhe kommen …
Richard und Elli Wahlstedt haben ihr Leben genossen, sich zahlreiche Wünsche erfüllt und kaum gestritten. Gleichwohl litt mal die eine und mal die andere Seele. Jeder versuchte, sein Inneres totzuschweigen, woran man letztlich noch schwerer trug. Manchmal kam sie sich neben Richard überflüssig und unnütz vor, manchmal wie eine falsch platzierte Tischnachbarin. Dann wieder erhob er sie zur ungekrönten Königin, ganz danach, wie viel von der Art Liebe sie ihm gegeben hatte, die er begehrte.
In manchen Jahren wurde sie krank daran, in anderen überwog das Gefühl, einen recht guten Menschen an ihrer Seite zu haben.
Richard hatte alle Vorkehrungen getroffen, die Zelte in der Stadt abzubrechen. Es werde zu Ellis Vorteil sein, sagte er. Welchen genau er meinte, war unklar.
Diesmal zog sie heimlich alle Register und letztlich war die Freude doch noch auf ihrer Seite. Sie wusste von ihrer Kollegin Rosel, dass deren Tochter Gretas Ehe kinderlos war. Sie kannte Greta und es war nicht schwer, ein Gespräch zu nutzen. Greta saß am Tresen und verkaufte Tickets. Es gab deshalb nur spärliche Kontakte. Aber es gab hin und wieder Zusammenkünfte, und da war Elli nicht zimperlich, ihre Chance zu nutzen.
Читать дальше