Leicht war die Entscheidung der Hanschkes nicht, auch wenn sie nicht gleich auf Gedeih und Verderb getroffen werden musste. Elli hatte Greta etwas versprochen, was sie auch halten wollte. Aber dann kam Richard mit seinem Traum vom Haus auf dem Lande.
Es sollte noch dauern, bis Greta Hanschke mit Klein-Pepe und ihrem Mann Axel direkt neben ihrem Grundstück in ein verlassenes Haus einzog. Nicht einmal Richard wusste: Es war der Lohn für Ellis Geschickes. Ein Lichtblick. Was man beginnt, muss man beenden — so oder so.
Niemand im Dorf ahnt, was Elli mit dem Jungen verbindet. Niemand. In diesem Dorf der geregelten Umstände ahnt auch keiner, wie das Leben spielen kann, wie es Leid und Not versprüht und Existenzen ruiniert.
Gut möglich, dass ihr Plan für den heutigen Tag neue Wunden reißt. Noch glaubt sie nicht, der Junge könnte es ihr danken. Sie wird auch das kalkulieren und je nach Verlauf des Tages entscheiden. Eine zweite Chance wird es nicht geben.
Als sie in dieses Haus gezogen sind, auf dieses Dorf, hatte sie das Gefühl, es drohe hier eine Gefahr. Sie könnte den Boden unter den Füßen verlieren. Schon damals war sie sicher: Heimat ist ein Gefühl.
Einmal hat es ihr die Sprache verschlagen. »…unser Dorf«, hatte Richard gesagt. »Unser Dorf?«
Für Elli war dieses Dorf nie ihr Dorf. Für Richard selbst war es das auch nicht. Er war es, der dem ganzen Zinnober dörflicher Tradition Ignoranz entgegengebracht hatte. Manchmal wollte sie es ihm mit Worten beibringen, aber Richards Eigensinn und die Worte von Elli waren selten ein gutes Gespann. Es kostete sie viel Kraft, vorzuleben, wie gute Nachbarschaft gehen könnte. Leider bemerkte Richard ihre Mühe nicht. Sein Gartenzaun war das Ende für Gemeinsamkeit. Er hätte nie verstanden, was Elli damit bezweckte, auf die Dörfler zuzugehen, nicht abseits zu stehen. »Was soll daran lustig sein«, fragte er einmal, »wenn man sich fremden Zwängen hingibt.«
Ellis Gedanken sind unumstößlich: Man muss groß geworden sein in diesem Dorf, um dessen Menschen zu verstehen. Sie weiß nicht, wie viele Kinder hier geboren werden. Sie weiß nicht, wie viele Menschen hier verwurzelt sind. Wie viele in der alten Kirche ihre Hochzeitsschwüre teilen, wie viele auf dem Friedhof liegen, Fremde wie Hiesige. Sie hat erst lernen müssen, dass alles Fremde nichts wert ist, sogar auf dem Gottesacker nebenan.
Dieses Dorf ist nicht geschaffen für Menschen, die der Tradition nicht dienen. Für Elli stand fest: Man darf nicht abseits stehen, keine Schwäche zeigen, sich nicht einschüchtern lassen…
Diese Vorsätze waren leichter als das Leben. Man konnte sich täuschen an bunten Gärten, die nach Liebe riechen. Man glaubte an Brüderlichkeit bei den brechend vollen Tischen beim Schützenfest.
Elli hoffte zu lange, die breitgezogenen Lippen und die inständigen Worte waren ehrlich. Dann kam der Tag, als sie spürte, nicht dazuzugehören.
Familie Wahlstedt gehörte nie dazu, da konnte Richard noch so sehr seinen Kopf schütteln und meinen, es interessiere ihn nicht. Sie hätte gerne dazugehört, aber Heimat wurde ihr das Dorf nie.
Vermutlich ist es diese Distanz, die ihr die Angst vor dem Tag genommen hat, an dem sie einst die Füße voran dieses Haus verlässt…
Seit Richard nicht mehr im Haus herumschleicht, lebt Elli Wahlstedt tonlos vor sich hin. Das fünfte Jahr. Ein langer, fader Stummfilm. Auf einem Dorf ist er besonders stumm, besonders fade. Dabei müsste sie das Leben doch kennen, war selbst auf einem Dorf geboren worden — als fünftes Kind mitten im mörderischen Krieg.
Elli denkt seit Jahren wieder einmal an ihre Mutter. Kriegswitwe mit fünf kleinen Kindern, die immer Sehnsucht hatten. Wonach, das wussten sie nicht, weil sie nicht wussten, was es so gibt im Leben der anderen.
Mutter hatte viel gegrübelt, wenn sie auf ihrer Ritsche vor dem Küchenherd saß und den Rauch ihrer Zigarette in das offene Feuerloch blies. Rauchen musste sie. Das beruhigte ihre Nerven, aber es änderte das Grübeln nicht. Wochenlang — Tage wie Nächte — hat sie ihr Leben um und um gewälzt. Hat nach Fehlern gesucht, nach Missetaten, die sie begangen haben musste, wenn sie der Herrgott so strafte. Sie hatte keine gefunden.
»Unser Herr und Gott hat ihn zu sich genommen«, predigte der Pastor bei der Gedächtnisfeier der gefallenen Kriegshelden, zu denen auch Vater Johannes gehörte. Seither wollte die Mutter mit keiner Art Herren mehr etwas zu tun haben. Immerhin hatte sie ihren Kindern den Religionsunterricht nicht verboten. Sie grämte sich zwar, wenn sie den weiten Weg ins Nachbardorf zur Kirche mussten. Sie fand es nutzlos. Warum sollten sie das Beten lernen, wenn sie Wünsche hatten oder keinen Weg mehr sahen? Sie sollten sich auf ihre eigene Kraft besinnen. Sie sollten nirgendwo den Rücken krümmen und die Hände falten. Diese Freiheit der Entscheidung grub sich fest in das Wesen von Elli.
Als der Koffer gepackt ist und gut verschlossen, setzt sie sich auf eine Kante und sinniert, ob sie alles Nötige eingepackt hat. Sie muss sich noch dem Anlass gemäß anziehen. Das dunkelblaue Kostüm hängt gebügelt und gebürstet an der Garderobe, und die passenden Pumps stehen blitzblank im Flur. Sie wird die lachsfarbige Bluse anziehen, Blau und Lachs, eine Farbkombination, die nach Richards Geschmack wäre. Sie hingegen bevorzugte stets Ton-in-Ton.
Den kleinlichen Hader vergangener Jahre, den es bisweilen mit Richard gab, kann sie heute nicht mehr verstehen. Sie fühlt sich gerade heute so nah bei sich und doch so fern von dem, was ihr Wesen bisher ausgemacht hat. Als stehe sie noch fest mitten im Leben, freut sie sich auf ihren Entschluss für diesen Tag. Sie wird den entscheidenden Schritt gehen. Sie wird so tun, als will sie nicht so allein sein, wie sie in den letzten Wochen war, seit sie und Greta Hanschke zum ersten Mal uneinig auseinandergegangen sind.
Wie stets im Leben wird Elli noch erfüllen, was unerfüllt ist.
Die Schwalben sind zurück. Im Tiefflug schnappen sie nach Fliegen. Nicht, dass man Schwalben im Dorf sonderlich mag. Sie sind nur Gast auf Zeit, wie Elli Wahlstedt. Anders als Elli werden die Schwalben die Höfe der Nachbarn mit ihren Hinterlassenschaften beschmutzen und so manchen Umbau vereiteln, weil sie Schutz genießen, mehr als Elli je genossen hat. Die eleganten Segler sorgen seit Jahren für dörflichen Selbstbetrug. Schwalben bringen Glück. Das ist noch der geringste. Wie könnte auch nur eine Schwalbe an eines Menschen Glück denken? Am Glück muss man schmieden. Daran glaubt sie noch immer, auch wenn sie das Leben bisweilen anderes lehrte. Sie hat einst geschmiedet am Lebenslauf des Jungen, der zum Glück seiner Eltern wurde, ungeplant, wenn auch mit Zweifeln beladen.
Greta Hanschke hatte im rechten Moment auf Elli gehört, damals. »Gleiches Blut ist kein Garant für Glück…« Warum hört sie jetzt nicht auf ihre Mahnung? Der Junge hat das Recht auf Wahrheit.
Elli hatte Greta schon tags zuvor angerufen. Sie wollte nicht so Auge in Auge zur Ausrede gezwungen sein. Hat nur gefragt, ob Pepe sie mal wieder fahren kann.
Pepe ist ein guter Junge. Greta und Axel haben ihn mit all der Liebe erzogen, die Menschen zu geben imstande sind. Es hätte durchaus schief gehen können. Man kann keinen Menschen von seinen Genen befreien. Charakter ist die Unfähigkeit, anders zu sein. Sie wusste es von Anbeginn, dass es gelingt. Sie ahnte es. Das Wesen eines Menschen ist unzerbrechlich, aber in jungen Jahren ist es noch formbar.
Die Uhr an der Wand schlägt gerade neun Uhr. Elli steht hinter der Gardine und schaut über den kleinen Hof, den Richard vor zwanzig Jahren liebevoll gepflastert hatte. Auf die kleinen grünen Inseln zwischen den Mustern aus Stein hatte Elli vehement bestanden. In Gedanken sieht sie Richard, der die Dinge des Lebens wie die auf seinem Hofe sehr genau nahm. Wie er die kleinen Koniferen wässerte, die sich nicht wehren konnten gegen den Wasserschlauch. Auch gegen seine Gartenschere konnte sie nichts ausrichten. Damit gab er allen Gewächsen merkwürdige Formen. Sogar die rosa bis lila blühenden Rhododendren wuchsen, wie er es wollte. Erst seit drei Jahren blühen sie üppig, wie sie es selbst möchten und wie es auch Elli gefällt.
Читать дальше