Wenn wir den großen Flüssen in unserem Land wieder die Möglichkeit gäben, frei nach ihrer Natur zu fließen, würden sie sich bald wieder selbst gereinigt und stabile Bahnen eingenommen haben, die auch in Zeiten größerer Belastung standhalten. Und genauso verhält es sich mit unserem Leben, wenn wir die Beschränkungen loslassen und uns dem großen Strom hingeben. Wir wollen uns dazu gleich einige Beispiele anschauen. Für den Moment ist es wichtig, dass du verstehst, dass Festhalten beziehungsweise das zielgerichtete Handeln gegen die Natur, das Leben und den Lauf der Dinge ist. Festhalten nützt dir nicht, sondern schadet.
Du denkst jetzt vielleicht: „Aber gerade daran, dass mein Partner festhält und mich unbedingt behalten will, erkenne ich doch, dass er mich liebt, oder?“ Nein. Daran erkennen wir erst einmal nur eins: Dass dein Partner Angst hat, die Beziehung und dich zu verlieren. Was das genau bedeutet und wie sich wahre Liebe wirklich äußert, werden wir an einer späteren Stelle beleuchten. Jetzt solltest du dir nur eins merken:
» Festhalten beziehungsweise gelenktes Handeln verursacht Leid und Probleme und bewirkt meist nur das Gegenteil von dem, was du erreichen willst.
Um dir dieses Prinzip zu verdeutlichen, möchte ich dir ein einfaches Experiment vorschlagen, das du sofort nachmachen kannst. Bei der Gelegenheit wollen wir einen guten Freund zu Rate ziehen, der uns im Verlauf des Buches begleiten und uns viele Zusammenhänge anschaulich erklären wird. Gestatten? Unser Freund, das Wasser …
Der Weg des Wassers: Warum Festhalten alles schlimmer macht
Das Wasser ist ein wunderbarer Lehrer. Diese klare, unscheinbare Flüssigkeit ist wirklich der „Stoff des Lebens“. Und nicht nur im biologischen Sinne. Im Verlauf des Buches werden wir ihm immer wieder begegnen. Das Wasser wird uns dabei helfen, die Zusammenhänge zu verstehen und liefert uns anschauliche Bilder für komplexe Vorgänge. Und hier ist auch schon das Erste: Das Wasser verdeutlicht uns, warum Festhalten und zielgerichtetes Handeln uns meist genau das Gegenteil von dem bringen, was wir eigentlich wollen. Dazu habe ich mir ein kleines Experiment ausgedacht. Du kannst es gedanklich mitmachen oder tatsächlich, nachdem du den folgenden Abschnitt gelesen hast.
Festhalten – das Experiment
Gehe in die Küche oder ins Badezimmer und fülle einen Eimer, eine Schüssel oder einfach das Waschbecken mit Wasser. Nun greife mit beiden Händen in das Wasser, als würdest du in eine Teigmasse greifen. Versuche das Wasser festzuhalten. Versuche, es in deinen Fäusten einzuschließen. Drücke so fest wie möglich zu, damit es dir nicht mehr entwischt. Kein Tropfen darf verloren gehen! Was geschieht?
Raum für dich und deine Gedanken
Du hast sehr wahrscheinlich genau das gleiche festgestellt wie ich und wie alle anderen Menschen, die dieses Experiment je gemacht haben und noch machen werden:
» Je fester du zudrückst, desto mehr rinnt dir das Wasser durch deine Finger.
Und genauso ist es mit der Liebe, dem Leben, dem Erfolg, der Wertschätzung und allen anderen Dingen, die uns Probleme im Leben machen können.
„Wer auf Zehenspitzen steht, steht nicht sicher. Wer vorauseilt, kommt nicht weiter. Wer zu glänzen versucht, verdunkelt sein eigenes Licht. Wer sich selbst definiert, kann nicht erfahren, wer er wirklich ist. Wer Macht hat über andere, kann sich selbst keine Macht verleihen. Wer sich an sein Werk klammert, wird nichts schaffen, was von Dauer ist.
Willst du eins mit dem Tao sein, so tu deine Arbeit und dann lass los.“[Fußnote 5] (Laotse)
Zum Begriff des Tao, wie Laotse es nennt, werden wir uns im dritten Teil des Buches ein genaueres Bild machen. Lass uns hier zuerst einmal untersuchen, wie das Prinzip des Festhaltens in unserem Leben wirkt.
Beispiele – wie Festhalten deine Probleme verursacht
Du hast nun in der Theorie gesehen, wie Festhalten unsere Probleme verursacht. Vielleicht hast du das dahinterliegende Prinzip auch hautnah am Beispiel des Wassers erfahren. Nun wollen wir uns ein paar praktische Beispiele aus dem Leben anschauen:
Beispiel 1: Stress im Alltag
Situation
Du bist den ganzen Tag mit Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung beschäftigt und hast gar keine Zeit mehr für dich selbst.
Du gönnst dir selbst keine Ruhe, weil für dich das Festhalten an gewissen Prinzipien wichtiger ist. Diese Prinzipien sind zum Beispiel …
eine gute Angestellte/ein guter Angestellter zu sein
einen 1a-Haushalt zu haben
tipp-top aufgeräumte Kinderzimmer zu haben
und das alles selbst zu erledigen
Niemand zwingt dich dazu. Du hältst freiwillig an all diesen Vorstellungen fest und opferst dich und dein Wohlergehen dafür.
» Du leidest unter Stress, weil du an diesen Prinzipien festhältst.
Beispiel 2: Ängste und Selbstzweifel
Situation
Du sollst einen Vortrag vor einer Gruppe halten.
Das kennt jeder. Stelle dir einmal bildlich vor, dass du in 5 Minuten einen Vortrag vor einer Gruppe von 50 Leuten halten sollst, die im Nebenzimmer auf dich warten. Was passiert? Angst, Unwohlsein, Stress. Das ist normal und betrifft wirklich jeden. Ausnahmslos, weil es eine Art Urinstinkt ist. Darauf werden wir gleich noch genauer eingehen. Hier wollen wir erst einmal erkennen, worauf diese Angst und dieser Stress beruhen: Auf der Tatsache, dass du daran festhältst, der Gruppe zu gefallen und einen guten Vortrag liefern zu wollen. Ich behaupte nicht, dass diese Grundsätze etwas schlechtes sind. Sieh dir die Situation erst einmal nur an und erkenne, wie dein Leid seinen Ursprung in diesem Festhalten und dieser Absicht hat.
» Du leidest unter Ängsten und Selbstzweifeln, weil du daran festhältst, der Gruppe gefallen zu wollen.
Beispiel 3: Liebeskummer
Situation
Du hast deinen Partner verloren.
Das ist der Klassiker. Wahrscheinlich so alt wie das Festhalten selbst. Und wir haben es ja schon weiter oben angeschnitten: Warum leidest du, wenn dein Partner dich verlässt? Weil du an ihm beziehungsweise dem Fortbestand eurer Beziehung festhältst. Auch wenn das zunächst einmal logisch und wenig überraschend klingt, will ich, dass du das ganz genau verstehst:
» Du leidest nicht, weil dein Partner dich verlassen hat. Er ist nicht schuld an deinem Leid. Das bist du selbst, weil du daran festhältst, dass diese Beziehung weiterbestehen sollte.
Das ist der Schlüssel. Dass du zunächst einmal die Verantwortung übernimmst. Denn was du selbst verursachst, das kannst du auch selbst verändern! Und das ist gar nicht mal so schwer. Doch bevor wir die Verantwortung für unser Leid übernehmen und unsere Situation verändern können, müssen wir es ja erst einmal erkennen, unser Leid und die Probleme, die das Festhalten verursacht.
Wie Festhalten sich tarnt und in allen Bereichen unseres Lebens wirkt
» Dein Festhalten verursacht deine Probleme!
Das beschränkt sich nicht bloß auf Beziehungen, Vorträge und den Haushalt. Es ist viel mehr ein Prinzip des Lebens, das in allen Bereichen und auf allen Ebenen wirkt. Vom Größten bis zum Kleinsten. Ich würde fast sagen, es ist ein universelles Gesetz, das sogar in der modernen Wissenschaft angewendet wird. Aber es tarnt sich gut und wir neigen dazu, seine Wirkung zu übersehen. Deshalb wollen wir uns hier noch ein paar Klassiker anschauen, damit du ein besseres Gespür dafür bekommst, es auch in deinem Leben zu erkennen:
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