„Das Wasser strengt sich nicht an, um flüssig zu sein; es ist seine natürliche Eigenschaft. So kann auch die Tugend des vollkommenen Menschen, ohne dass er sich ihrer befleißigt, durch nichts aus ihrer Bahn gelenkt werden. Der Himmel ist von Natur aus hoch, die Erde fest, Sonne und Mond sind hell. Befleißigen sie sich dieser Eigenschaften?“[Fußnote 15] (Dschuang Dsi)
Warum Loslassen leicht und mühelos ist
» Wu Wei ist leicht und mühelos. Es ist ein Zustand der inneren Stille, durch den zur richtigen Zeit die richtige Handlung ohne Anstrengung des Willens hervortritt.
Wie ein Tänzer, der nicht Schritt für Schritt bewusst entscheiden muss, sondern seine Bewegungen einfach mit der Musik „fließen“ lässt.
Wie ein Schriftsteller, der nicht Wort für Wort mühevoll überlegt, ob es das richtige ist, sondern seine Gedanken einfach „fließen“ lässt.
Wie ein Redner, der nicht mühevoll Wort für Wort von seinem Skript abliest, sondern intuitiv die richtigen Worte aus seinem Überbewusstsein „fließen“ lässt.
Wie ein Künstler, der nicht mühevoll seiner Leinwand seine Vorstellung aufzwingt, sondern seinen Pinselstrich „fließen“ lässt und ihn zum ausdrückenden Werkzeug seines Überbewusstseins werden lässt.
Dieses intuitive „fließen lassen“ ist das Prinzip des wahren Loslassens und genau so funktioniert und hilft es uns. Viele asiatische Künste, wie Kalligrafie oder ZEN-Malerei, dienen im Wesentlichen genau diesem Zweck: Sie schulen das intuitive und spontane Handeln. Das „Wu Wei“ beziehungsweise das wahre Loslassen. Dazu wollen wir uns später auch einige Beispiele anschauen.
„Also ist Loslassen in jeder Situation immer das beste Mittel der Wahl?“ , fragst du dich jetzt vielleicht. Die Antwort ist: Jain …
Warum Loslassen fast immer die Lösung ist (und die einzige Ausnahme)
Grundsätzlich gibt es immer zwei Wege, ein Problem zu lösen:
1 den äußeren Weg, über die Änderung der Umstände
2 den inneren Weg, über die Änderung deiner Einstellung
Im Kapitel zum Thema Schuld haben wir bereits besprochen, dass der erste Weg meist schnell an seine Grenzen stößt. Leider ist das aber genau der Weg, den wir beigebracht bekommen, den wir gewohnt sind zu gehen und für den wir uns immer wieder bewusst entscheiden. Es ist der Weg des Festhaltens:
Zu viel Stress im Job? Dann muss ein neuer her.
Angst vor einem Vortrag? Dann kann der Arzt uns krankschreiben.
Vom Partner verlassen? Dann müssen wir einen Weg finden, ihn zurückzugewinnen.
Mit diesen Verhaltensmustern erreichen wir vieles, aber meist nicht die endgültige Lösung unseres Problems. Und trotzdem beharren wir immer wieder auf diesen Mustern. Wir sind wie Affen. Und weißt du, wie man Affen fängt?
Die Affenfalle – warum wir uns lieber zu Tode kämpfen, als loszulassen
Wenn du einen Affen fangen willst, verankerst du eine Kokosnuss im Boden, bohrst ein großes Loch hinein und versteckst einen Leckerbissen darin. Wenn ein Affe vorbeikommt und die Nuss entdeckt, greift er natürlich nach der Leckerei. Sobald er sie allerdings in der Hand hält, passt die geschlossene Faust nicht mehr durch die Öffnung der Nuss. Der Affe müsste einfach nur die Hand öffnen und die Leckerei loslassen, um sich zu befreien, aber das tut er nicht. Er hält sie fest. Und er kämpft. Bis zur Erschöpfung. Manchmal sogar bis zum Tod. Das ist Festhalten und das ist, was auch wir gewohnt sind, zu tun. Bis zur Erschöpfung und leider oft auch bis zum Tod.
» Dabei müssten wir nur erkennen, dass es viel einfacher und müheloser ist, loszulassen. Wir könnten uns auf einen Schlag befreien.
Diese Standardreaktion des Festhaltens und Kämpfens wollen wir in den folgenden Kapiteln ändern. Eine Ausnahme wollen wir vorher aber noch hinzufügen …
Die Ausnahme: Wann der äußere Weg doch angebracht ist
Es ist nicht vollkommen unberechtigt, über die Änderung der Umstände ein Problem lösen zu wollen. In gewissen Situationen ist es sogar absolut zwingend notwendig, sofern sich damit eine Besserung bewirken lassen kann. Denke an die Box mit den Klötzchen: Solange noch passende Klötzchen für die ausgewählte Öffnung vorhanden sind, solltest du sie auch nutzten. Als Beispiel hatten wir die Frau mit dem schlagenden Ehemann genannt. Hier kann und sollte die Frau unbedingt die äußeren Umstände ändern.
» Die Kunst ist, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann welche Methode angebracht ist.
Dschuang Dsi hat dazu wieder eine anschauliche Metapher:
„Um auf dem Wasser voranzukommen, ist’s am besten, ein Schiff zu benutzen; um aber auf dem Lande voranzukommen, benützt man am besten einen Wagen. Wenn einer, weil man mit einem Schiff auf dem Wasser vorankommen kann, darnach streben würde, es auf dem Lande zu schieben, so würde er sein Leben lang keinen Schritt vorwärts kommen.“[Fußnote 16] (Dschuang Dsi)
Irgendwann kommt allerdings immer der Punkt, an dem dieser Weg über die äußeren Umstände nicht mehr möglich ist. Dann bleibt uns am Ende immer noch der innere Weg.
„Genau, das Loslassen“ , denkst du jetzt vielleicht. Jain …. Natürlich können wir den inneren Weg und das Ändern unserer inneren Einstellung mit dem Loslassen gleichsetzen. Aber auch der äußere Weg kann oft nur in Zusammenarbeit mit dem Loslassen Erfolg haben.
Warum beide Wege nur über das Loslassen funktionieren
Bei der Frau mit dem schlagenden Ehemann wäre der äußere Weg ja beispielsweise das Verlassen des Mannes. Damit sie das aber tun kann, muss zunächst ein inneres Loslassen stattfinden, denn aus irgendeinem Grund blieb sie ja bis jetzt bei ihm und hat das alles über sich ergehen lassen. Du siehst, die Fähigkeit des Loslassens liegt eigentlich immer zugrunde. Deshalb behaupte ich gerne:
» Das Loslassen ist die Lösung (fast) aller Probleme.
Das hört sich zwar abgehoben und übertrieben an, es entspricht aber schlicht und einfach den Tatsachen, weil inneres Loslassen auch nahezu jeder äußeren Handlung vorangehen muss. Wenn du diese Fähigkeit des Loslassens beherrschst, brauchst du dich vor nichts mehr zu fürchten. Du kannst dir das Loslassen wie das Fundament einer Pyramide vorstellen: Egal, welchen Stein du an die Spitze setzen willst, solange das Fundament nicht stimmt, wirst du keinen Erfolg haben. Wenn du zum Beispiel …
gelassener leben willst, solltest du Stress und Erwartungsdruck loslassen können.
dich selbst finden und dir treu sein willst, solltest du die Meinung anderer loslassen können.
eine erfüllte Beziehung führen und deinen Partner nicht vertreiben willst, solltest du ihn loslassen können.
» Egal, was du erreichen willst, es beginnt immer mit dem Loslassen.
Beispiele – wie Loslassen dir bei deinem Problem hilft
Beispiel 1: Stress im Alltag
Anstatt immer wieder die Arbeit zu wechseln, wenn es stressig wird, solltest du vielleicht lernen, den Stress loszulassen und besser damit umzugehen? Anstatt immer wieder deinen Partner, die Kinder oder die unfähige Haushälterin für das Chaos im Haus verantwortlich zu machen und dir damit das Leben schwerzumachen, solltest du vielleicht lernen, loszulassen und bis zu einem gewissen Grad damit zu leben?
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