Auch wir Menschen halten oft an Negativem fest, weil wir es so gelernt haben. Jeder findet ein Beispiel dazu in seinem Leben. Sei es, dass uns vielleicht in der Kindheit immer und immer wieder gesagt wurde, wir könnten etwas nicht oder seien nicht gut genug. Oder, dass wir immer wieder an einer speziellen Aufgabe gescheitert sind, von Menschen abgewiesen wurden oder uns einfach daran gewöhnt haben, „arm“ zu sein oder nichts zu sagen zu haben.
» Irgendwann geben wir einfach auf und arrangieren uns mit dem Leid.
Wir haben also selbst gegen negative Denk- und Handlungsmuster eine ausgeprägte Verlustaversion.
Der Weg des Wassers – warum die Verlustangst all unser Denken und Handeln lenkt
Die Verlustangst ist wie die tiefste Stelle in unserer Gedankenlandschaft. Alle Bäche und Ströme scheinen immer wieder hierhin zu führen.
» Gerade weil die Verlustangst so tief sitzt, ist sie die treibende Kraft für all unsere Gedanken und Handlungen.
Schauen wir uns das an unseren Beispielen an:
Beispiele – die Verlustangst hinter deinem Problem
Beispiel 1: Stress im Alltag
Du willst die perfekte Angestellte, Hausfrau, Mutter und Ehefrau sein. Eben haben wir als Ursache dafür deine Angst davor entlarvt, andere Menschen zu enttäuschen. Dahinter steht die Ur-Angst, von der Gruppe verstoßen zu werden, und dahinter natürlich dein Überlebensinstinkt. Auch dein Stress im Alltag geht also am Ende auf die Verlustangst zurück: die Angst, dein Leben zu verlieren. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Verlustangst wirkt nämlich auf jedem einzelnen Level:
Du willst …
den Ruf als vorbildliche Angestellte nicht verlieren
das Ansehen in deiner Familie und bei Bekannten als gute Hausfrau und Mutter nicht verlieren
deine Rolle in der Gesellschaft nicht verlieren, die dich schließlich definiert und ausmacht
Du willst alles so belassen, wie es ist, denn …
du hast schon so viel darin investiert (Verlustaversion)
es ist zu einem wichtigen Bestandteil deines Seins geworden (Eigentumseffekt)
schließlich ist es schon eine ganze Zeit gut so (Status-quo-Effekt)
» Du hältst die Ursachen deines Stresses aus Verlustangst tief im Innern selbst fest, auch wenn du den Stress an der Oberfläche loslassen möchtest.
Beispiel 2: Ängste und Selbstzweifel
Du fürchtest dich vor einem öffentlichen Vortrag vor einer größeren Gruppe. Im vorherigen Kapitel haben wir als Ursache dafür ebenfalls die Angst ausgemacht, der Gruppe nicht mehr gefallen zu können und ausgestoßen zu werden. Auch das geht am Ende auf die Verlustangst unseres Lebens zurück, das mit einem Verstoß aus der Gruppe viel schwerer zu halten wäre. Aber auch hier bewirkt die Verlustangst noch mehr:
Du willst …
die Achtung deiner Kollegen nicht verlieren
die Rolle des seriösen und fehlerfreien Kollegen nicht verlieren, die du dir über die Jahre aufgebaut hast
den Schutz deiner Position als desjenigen, der nie Vorträge hält, nicht verlieren
Denn diese Dinge bringen dir Vorteile: Du hast …
schon so viel in dein Ansehen und die Anerkennung deiner Kollegen investiert (Verlustaversion)
die Rolle des seriösen und fehlerfreien Kollegen zu einem Bestandteil deiner Selbst gemacht, den du unmöglich wieder hergeben kannst (Eigentumseffekt)
mit diesem Schutz als vortragsscheuer Kollege die ganze Zeit doch gut gelebt und willst die Situation deshalb auf keinen Fall ändern (Status-quo-Effekt)
» Du sträubst du dich aus Verlustangst tief im Innern gegen diesen Vortrag, sogar wenn du ihn an der Oberfläche gerne halten würdest.
Du willst deinen Partner nicht verlieren. Wir wissen bereits, dass auch hier die Ur-Angst dahintersteckt, wichtige Überlebensvorteile zu verlieren und am Ende unser Leben zu verlieren. Doch auch hier ist die Verlustangst auf allen anderen Ebenen gegenwärtig:
Du willst …
den Rückhalt und die Unterstützung nicht verlieren, die dir dein Partner zuteilwerden lässt
das Gefühl nicht verlieren, dass dich dieser Mensch braucht und du für ihn wichtig bist
deinen Status „vergeben“ nicht verlieren, weil das eine gesellschaftliche Demütigung bedeuten würde
Du willst all das nicht verlieren, weil diese Dinge dir Vorteile bringen: Du hast …
schon Jahre oder Jahrzehnte in diese Beziehung investiert und dich dabei selbst hinten angestellt (Eigentumseffekt)
deine Rolle als die Partnerin oder der Partner von X zu einem Bestandteil deiner Identität gemacht, den du keinesfalls aufgeben willst (Eigentumseffekt)
dich so an die gemeinsame Zweisamkeit gewöhnt, dass du dir gar nicht mehr vorstellen kannst, wie es ist, ohne Partner durch die Welt zu gehen (Status-quo-Effekt)
» Du hältst aus Verlustangst so unbändig an dieser Beziehung fest, sogar dann, wenn dein Partner dich schlecht behandelt oder schon längst einen anderen hat.
Warum wir selbst unsere negativen Denk- und Verhaltensmuster nicht loslassen wollen
Ähnlich wie bei er Concorde hast du schon so viel investiert und so viele Opfer bringen müssen, um diese Muster immer wieder zu bestätigen. Vielleicht lebst du schon 20, 30 oder 50 Jahre damit. Wer gibt diese Investition schon gerne auf? Das kann doch alles nicht umsonst gewesen sein?! (Verlustaversion)
Du hast dir diese Muster zu eigen gemacht. Sie gehören zu dir und sind dir lieb und teuer geworden. Du betrachtest sie als Teil von dir und wer gibt schon gerne etwas ab, das ihn ausmacht? So negativ es auch sein mag, immerhin macht es dich besonders und gibt dir Identität! (Eigentumseffekt)
Du hast dich daran gewöhnt, so zu leben. Es ist einfach geworden. Es zu hinterfragen oder gar zu ändern, erfordert Mühe, die du gar nicht erst aufbringen willst, weil du ja ohnehin zu wissen glaubst, dass es auf der anderen Seite auch nicht anders ist! (Status-quo-Effekt)
» Es ist dir wichtiger, all diese vermeintlichen Vorteile nicht zu verlieren, als Freiheit und Leichtigkeit zu gewinnen, selbst wenn das, woran du festhältst, ein negativer Gedanke ist.
Keine Sorge, wir werden im weiteren Verlauf wirkungsvolle Gegenmittel kennenlernen, um diese drei Effekte zu überwinden, zum Beispiel in Schritt 6 auf dem Weg zum wahren Loslassen. Jetzt müssen wir aber noch eine letzte Ebene tiefer gehen, um den wahren Ursprung all unserer Probleme zu finden. Die nächste wichtige Frage lautet nämlich …
Warum haben wir so massive Verlustängste?
Langsam nähern wir uns dem wahren Ursprung all unseres Leids und unserer Probleme. Unsere Verlustängste gehen auf etwas noch Tieferes zurück. Ein Ungetüm, das in unserem Innern lauert. Und wir kommen ihm nun immer näher. Mach dich darauf gefasst. Im nächsten Kapitel werden wir dem Kern all deiner Probleme und deines Leides in die Augen schauen.
» Jede Angst und damit jedes Problem in deinem Leben, gehen auf eine Verlustangst zurück.
Die Angst vor Verlust ist die Quelle all unserer Ängste, Sorgen und Negativität und damit auch all unserer Probleme.
Neben der Ur-Angst, unser Leben zu verlieren, wirkt die Verlustangst vor allem in drei unterschiedlichen Gewändern in unserem Leben:Verlustaversion: Unsere Abneigung dagegen, Dinge loszulassen, in die wir schon so viel investiert haben (selbst, wenn sie uns mehr kosten, als sie nutzen).Eigentumseffekt: Unser Unvermögen, Dinge loszulassen, die wir zum Bestandteil unserer Identität gemacht haben (selbst, wenn sie schädlich sind).Status-quo-Effekt: Unser Unwille, Dinge loszulassen, an die wir uns gewöhnt haben (selbst, wenn sie negativ sind).
Die Verlustangst ist durch all diese Einflüsse die treibende Kraft hinter all unseren Gedanken und Handlungen. Sie zieht alles an sich, wie die tiefste Stelle einer Landschaft das Wasser anzieht und zu einem tiefen Gewässer formt.
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