„Aber ein Minimum an Freundlichkeit kann man doch wohl erwarten!“ , denkst du jetzt wahrscheinlich. Genau das ist das Problem. Es ist immer wieder so leicht, in dieses Muster zu verfallen und der Welt und allen anderen die Schuld für unser Problem zu geben … zu leicht. Die Antwort ist: Nein, kannst du nicht. In Wahrheit kannst du einfach gar nichts erwarten. Du kannst nicht einmal das erwarten, was du selbst berücksichtigst. Erwartest du etwa von einem Hai, dass er dich nicht frisst, nur weil du ihn nicht frisst? Der einzige Mensch, von dem du wirklich etwas erwarten kannst, bist du selbst. Und deshalb ist es so wichtig, dass du die Verantwortung für dein Wohlergehen übernimmst. Im vierten Teil des Buches werden wir uns diese allseits beliebte Opferrolle genauer anschauen und anhand einiger Beispiele und handfester Tipps herausfinden, wie wir sie ein für alle Mal verlassen können.
Die Ausnahme – Wann es Sinn macht, deiner Umwelt die Schuld zu geben
Ich will nicht behaupten, dass es generell immer besser ist, die Ursache eines Problems in einer Erwartung zu suchen und die Lösung auf dieser Seite zu bewirken. Es gibt Fälle, wo wirklich eine äußere Maßnahme erforderlich ist. Genauso wie es im Kinderspiel ja immer noch diejenigen Bauklötzchen gibt, die tatsächlich durch unsere gewählte Öffnung passen. Solange es also die Möglichkeit gibt, Würfel durch die viereckige Öffnung zu schicken, sollten wir sie nicht von vorne herein ausschließen. Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird. Sie hat sicherlich die Erwartung, dass ihr Partner sie nicht schlagen sollte. Auf keinen Fall würde ich dieser Frau empfehlen, ihre Erwartung loszulassen und einfach die passende Schablone zu finden und sich damit willentlich den Schlägen ihres Partners auszusetzen. An dieser Stelle soll und muss eine Änderung der Umstände in der Realität erfolgen. Meiner Meinung nach am besten durch eine Trennung und Anzeige des schlagenden Ehemannes bei der Polizei. Aber: Auch bei dieser Variante geht es nicht ohne das Ändern der Erwartungen im Kopf der Frau. Warum hat sie ihren gewalttätigen Partner bisher nicht verlassen? Weil irgendwelche inneren Ideale sie davon abhalten. So beginnt auch hier alles innen. In der Außenwelt ist es uns immer nur bis zu einem gewissen Grad möglich, Anpassungen in ihr vorzunehmen.
» Die Kunst liegt darin, zu erkennen, inwieweit ein Problem durch äußere Maßnahmen gelöst oder reduziert werden kann und welche inneren Maßnahmen damit einhergehen müssen.
Im Sinne des Klötzchenspiels sollten wir uns also fragen: „Sind noch passende Klötzchen da oder muss ich mir eine neue Schablone suchen?“ Hier liegt auch der Unterschied zwischen Loslassen und Aufgeben, auf den wir später noch genauer eingehen wollen. Solange die Möglichkeit besteht, die äußeren Umstände zu ändern, darf und sollte dies genutzt werden. Allerdings geht auch das meist nicht ohne eine Anpassung der inneren Erwartungshaltung und wir stoßen hier oft schnell an unsere Grenzen. Wenn wir dann nicht erkennen, dass es einen zweiten Ansatzpunkt gibt, fahren wir uns fest und es wird immer schwerer, aus der Situation und dem Problem herauszukommen.
Warum das Ändern unserer Erwartungen unser Ass im Ärmel ist
Die Möglichkeit unsere Probleme über das Loslassen beziehungsweise Anpassen unserer Erwartungen zu lösen, besteht immer und überall. Wie gesagt, es sollte nicht immer das erste Mittel der Wahl sein, aber es steht ausnahmslos als letztes Mittel der Wahl zur Verfügung. So unnachvollziehbar das für dich im ersten Moment klingen mag:
» Selbst in den schlimmsten Horrorszenarien hat jeder Mensch noch die Möglichkeit, seine Erwartungen anzupassen und sich zumindest mit seiner Situation abzufinden.
Das ist es, was wir bewundern: Menschen, die querschnittsgelähmt sind und dennoch ein glückliches und zufriedenes Leben führen, weil sie ihre Erwartungen angepasst haben. Stell dir vor, der Betroffene würde bis ans Ende seiner Tage versuchen, sein Problem durch die Änderung seiner Umstände zu lösen. Er würde weder ein glückliches noch zufriedenes Leben führen und sich vermutlich jede Sekunde seines Daseins quälen. Nochmal: Hier gibt es einen schmalen Grat zwischen „Aufgeben“ und „Loslassen“. Sich mit der Situation abzufinden, Frieden damit zu schließen, die Erwartung „Ich kann gehen“ zu ändern, damit man wieder glücklich und zufrieden leben kann, bedeutet nicht, dass man aufgibt. Es gab schon viele Fälle von Querschnittslähmung, in denen der Betroffene das Unmögliche geschafft und wieder Laufen gelernt hat. Loslassen bedeutet nicht, zu resignieren. Im Gegenteil. Auch hier folgt wieder die Paradoxie des Lebens, genauso wie der „behinderte“ Bach das Potential besitzt, das Hindernis zu schleifen: Wenn der Betroffene sich durch die Änderung seiner Erwartungen mit seinem Schicksal arrangiert und nicht mehr dagegen ankämpft, hat er all diese Energie frei verfügbar, um sie tatsächlich in das Vorhaben, wieder gehen zu können, zu investieren. Vorher ist es eine reine Verschwendung geistiger Ressourcen, nun eine zielgerichtete Investition. Und selbst wenn der Querschnittsgelähmte es auch so nicht schafft, wieder zu gehen, so stürzt er nicht wieder in heilloses Unglück, weil er die Erwartung dazu ja bereits losgelassen hat. Du siehst also, dass der Ansatz an unseren Erwartungen immer möglich ist und verschiedene Vorteile bietet. In vielen Fällen bleibt uns auch gar kein anderer Ansatzpunkt mehr als das Loslassen unserer Erwartungen. Der Querschnittsgelähmte kann noch gegen seine Lähmung kämpfen, aber was, wenn ein naher Angehöriger plötzlich stirbt? Was kannst du dann in deiner Umwelt ausrichten, um das Problem zu lösen? Dich betrinken? Gott und die Welt verfluchen? Einen Hexenmeister suchen, der ihn wiederbelebt? In diesem und in vielen anderen Fällen ist der einzige Weg das Ändern und damit das Loslassen einer Erwartung, um irgendwann den Schmerz und das Leid zu überwinden. Deshalb wollen wir uns das Ganze einmal anhand unserer Beispiele anschauen:
Beispiele – warum du selbst dein Problem verursachst (und wie)
Beispiel 1: Stress im Alltag
Ist doch logisch … Wenn du dich nicht um all diese Dinge kümmern müsstest und dein Chef oder Partner nicht so viel von dir verlangen würde oder deine Kinder nicht so ungehorsam wären, wäre dein Leben viel leichter. Sie alle machen dir das Leben schwer, oder? Um deine Situation zu verbessern, müssten sie etwas ändern und weniger von dir verlangen, nicht wahr? Aber warum kümmerst du dich wirklich um all diese Dinge? Zwingt dich jemand? Setzt dir jemand die Pistole auf die Brust und gibt dir den Auftrag, deine Arbeit, den Haushalt und die Kindererziehung bestmöglich zu erledigen? Nein, diesen Auftrag erteilst du dir selbst. Durch deine Erwartungen:
„Ich muss meine Arbeit möglichst gut machen, damit ich gelobt beziehungsweise nicht getadelt werde. Es ist erstrebenswert, ein guter Angestellter zu sein!“
„Ich muss den Haushalt tipp-topp in Schuss halten. Es ist nicht gut, wenn Wäsche oder Geschirr sich stapeln. Es hat alles ordentlich zu sein!“
„Ich muss die Kinder besser erziehen. Kinder müssen auf ihre Eltern hören und sollten jeden Tag ihr Zimmer aufräumen!“
So oder so ähnlich lauten die Gedanken, die hinter all dem stecken. Das sind die Ideale oder Glaubenssätze, die du dir selbst vorgibst und die du dich selbst einzuhalten zwingst.
» Du selbst verursachst deinen Stress und Ärger durch deine Erwartungen.
Niemand sonst stresst dich. Nicht dein Chef, nicht dein Ehemann und nicht die Gesellschaft. Falls du hier vehement protestieren möchtest und die Schuld doch der Gesellschaft anlasten möchtest, halte kurz inne. Denke an den Bach: Willst du wirklich vor dem Hindernis stehen bleiben und dein Glück in die Hände anderer legen?
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