In jeder Menschenhorde gab es alte, erfahrene Männer und Frauen, die der Jugend die Erfahrungen eines arbeitsreichen Lebens übergaben. Wie aber übergibt man sein Können, seine Erfahrungen anderen. Indem man zeigt und erzählt.
Dazu ist Sprache nötig.
Die Tiere brauchen ihren Kindern nicht beizubringen, wie die lebendigen Werkzeuge – Pfoten und Zähne – zu benutzen sind. Daher brauchen die Tiere nicht sprechen können.
Die Sprache war nötig, sowohl um gemeinsam zu arbeiten, als auch um die Arbeitserfahrungen und Arbeitskenntnisse von den Alten an die Jungen weiterzugeben. Wie hat der Mensch der Steinzeit gesprochen?
In der Tiefe der Höhlen und auf den Jagdplätzen der vorzeitlichen Menschen findet man mitunter sie selbst, oder vielmehr das, was von ihnen übriggeblieben ist. Ihre Schädel und Skelette wurden an vielen Stellen gefunden: in Frankreich, Deutschland, Belgien und in Russland. Nach dem Neandertal, wo einer der ersten Funde gemacht wurde, nennt man all diese damaligen Zeitgenossen „Neandertaler“.
Wir werden unseren Protagonisten auch „Neandertaler“ nennen. Wir müssen es kurz machen: Bei ihm werdet ihr nicht mehr auf den Gedanken kommen, er sei ein Affe. Und doch ähnelt er noch stark einem Affen. Die niedrige Stirn überragt die Augen wie ein Mützenschirm, die schräggestellten Zähne ragen vor. Hauptsächlich aber sind es Stirn und Kinn, die ihn von uns unterscheiden. Die Stirn flieht nach hinten, und das Kinn ist kaum angedeutet. In diesem fast stirnlosen Schädel fehlten offenbar noch Gehirnteile, die der heutige Mensch besitzt. Der Unterkiefer mit dem abgeschrägten Kinn war zum Sprechen ungeeignet. Ein Mensch mit solcher Stirn und solchem Kiefer konnte niemals so denken und sprechen wie wir denken und sprechen. Trotzdem musste er sprechen.
Die gemeinsame Arbeit erforderte das Sprechen. Wenn Menschen miteinander arbeiten, so müssen sie sich über die Arbeit verständigen. Der Mensch konnte nicht warten, bis ihm ein Kinn wuchs und sich die Kiefern verbreiterten. Da hätte er tausend Jahre warten müssen.
Wie verständigte sich nun der Mensch?
Er verständigte sich so, wie es ihm möglich war – mit Hilfe seines ganzen Körpers. Da er noch kein spezielles Organe für die Sprache besaß, so sprach er die Sprache der Gesichtsmuskeln, die Sprache der Schultern, der Beine, aber am meisten sprachen seine Hände.
Habt ihr schon einmal mit einem Hund gesprochen? Wenn unsere Hunde uns etwas zu erklären versuchen, so blicken sie uns in die Augen, stoßen uns mit der Nase an, legen uns ihre Pfoten auf den Schoß, krabbeln an unseren Beinen hoch, wedeln mit dem Schwanz, strecken sich und gähnen vor Ungeduld oder stellen sich an die Tür. Sie können nicht mit Worten sprechen, daher sprechen sie mit ihrem ganzen Körper, von der Nasenspitze bis zur Spitze des Schwanzes. Der vorzeitliche Mensch vermochte ebenfalls nicht mit Worten zu sprechen. Dafür halfen ihm bei der Verständigung mit anderen die Hände, denn mit ihnen arbeitete er, und die Verständigung war ein notwendiger Teil seiner Arbeit. Anstatt zu sagen: „Hacke“, schlug er mit der Hand; statt zu sagen: „Gib“, streckte er seine Hand vor, und statt zu sagen: „Komm her“, winkte er auf sich zu. Dabei verschaffte der Mensch seinen Händen mit der Stimme Nachdruck: er heulte, brüllte und schrie, um die Aufmerksamkeit seiner Hordenmitglieder auf sich zu lenken und sie zu zwingen, seinen Zeichen zu folgen.
Woher wissen wir das aber?
Jedes in der Erde gefundene Bruchstück eines Steinwerkzeugs ist ein nachweisbares Bruchstück der Vergangenheit. Wo aber findet man die Bruchstücke der Gesten? Wie stellt man die Bewegungen längst verwester Hände wieder her?
Das wäre ganz unmöglich, wenn die Urmenschen nicht unsere Vorfahren wären und uns, den heutigen Menschen, eine gewisse Erbschaft hinterlassen hätten. Bei den Indianern, die die englische Sprache wie auch die Sprache ihres Stammes fließend sprechen, können wir beispielsweise eine Sprache entdecken, die den Indianern aus sehr alten Zeiten überliefert wurde. Es ist die einfachste Sprache der Welt. Wenn ihr sie erlernen wollt, braucht ihr euch nicht mit Deklinationen und Konjugationen abplagen. Bei dieser Sprache aus vergangenen Zeiten denkt niemand an Dinge wie Konjunktive, Partizipien, Gerundien und so weiter, die für uns so schwer zu erlernen sind. Auch die Erlernung der Aussprache würde euch keine Zeit kosten, da es nichts auszusprechen gibt. Die Sprache, die die Indianer sprechen konnten, war keine Sprache der Laute, sondern eine Sprache der Zeichen. Ein Wörterbuch dieser Sprache sieht etwa so aus:
Der Bogen – die eine Hand hält den unsichtbaren Bogen, die andere spannt die unsichtbare Sehne.
Der Wigwam – ein Dach, durch die gekreuzten Finger der Hände nachgebildet.
Der Wolf – eine Hand mit zwei nach vorn gestreckten Fingern, die wie zwei Ohren aussehen.
Wolken – zwei Fäuste über dem Kopf, um die hängenden Wolken nachzubilden … und kennt das Wörterbuch unserer noch nicht sprechenden Vorfahren eine ganze Reihe anderer Begriffe und Zusammenhänge – Wortbilder. Auch wir benutzen im heutigen Alltag noch die längst vergangene Sprache der Zeichen und Signale: Statt „Ja“ nicken wir oftmals nur mit dem Kopf, bei „Nein“ schütteln wir ihn – in manchen Gegenden ist es umgekehrt. Wenn wir „Guten Tag“ sagen, verbeugen wir uns manchmal, wir zucken mit den Achseln, ziehen die Augenbrauen in die Höhe, schlagen die Hände zusammen, greifen uns an den Kopf und so weiter.
Wie aber ging es weiter, wie erwarb sich der Urmensch den Verstand und wie lernte er sprechen?
In der Welt wimmelt es von Signalen: Jedes Geräusch, jeder Geruch, jede Spur im Gras, jedes Schreien oder Pfeifen oder donnernde Dröhnen bedeutet irgendetwas und erfordert irgendetwas. Auch der Urmensch lauschte auf diese Signale, die ihm aus der Umwelt zugesandt wurden. Aber außer diesen Signalen lernte er bald auch die anderen Signale verstehen, die von den Leuten seiner Horde kamen.
Der Jäger hat irgendwo im Wald die Spur eines Hirsches gefunden. Mit einer Bewegung seiner Hand signalisiert er dies den anderen Jägern, die ihm folgen. Sie sehen das Tier zwar noch nicht, aber das Signal hat sie veranlasst, auf der Hut zu sein und die Waffe fester in die Hand zu nehmen, als hätten sie schon selbst das gablige Geweih und die gespitzten Ohren der Hirsche vor sich.
Die Fußspur auf dem Boden – das ist ein Signal. Die Bewegung der Hand, die von der gefundenen Spur kündet – das ist ein Signal eines Signals. Jedes Mal, wenn einer der Jäger eine Spur auf der Erde sieht oder das Geräusch des schleichenden Tieres hört, gibt er den übrigen Mitgliedern der Horde ein Signal dieses Signals. So folgt den Signalen, die die Natur dem Menschen gibt, die Sprache – „Signal der Signale“-, die der Mensch der Horde zusendet. Sprachforscher bezeichnen die menschliche Sprache als das „Signal der Signale“.
Zunächst gab es nur Gesten und Rufe. Von Augen und Ohren aufgenommen, gelangten sie ins Hirn des Menschen wie in eine Telefonzentrale. Das „Signal eines Signals“: „Ein Tier nähert sich“, gelangt zum Hirn; das Hirn gibt den Händen den Befehl, den Jagdspieß fester zu packen, mit den Augen eindringlich das Laub zu mustern und mit den Ohren genau auf knarrende und knackende Geräusche zu lauschen. Noch war das Tier nicht zu sehen oder zu hören, aber der Mensch war schon vorbereitet, ihm zu begegnen.
Je mehr Gesten es gab, umso häufiger gelangten „Signale von Signalen“ ins Gehirn, umso mehr Arbeit bekam die „Zentrale“, die hinter der Stirn des Menschen liegt. Dadurch musste sich die Zentrale immer mehr ausbreiten. Im Gehirn bildeten sich neue Zellen, und die Verbindungen der Zellen untereinander wurden immer verwickelter. Das Hirn wuchs und nahm an Umfang zu.
Der Schädel des Neandertalers hat einen um vierhundert bis fünfhundert Kubikzentimeter größeren Rauminhalt als der des Pithekanthropus. Das Hirn des Menschen entwickelte sich kontinuierlich über die Jahrtausende weiter. Der Mensch lernte denken. Wenn er das Signal, das „Sonne“ bedeutete, hörte oder sah, so dachte er an die Sonne, selbst wenn es zu dieser Zeit tiefe Nacht war. Wenn man ihm zeigte, dass er gehen und einen Speer bringen sollte, so kam ihm der Speer in den Sinn, obwohl keiner zur Hand war. Die gemeinschaftliche Arbeit lehrte den Menschen sprechen. Und indem er sprechen lernte, lernte er denken. Ein wechselseitiger Prozess. Der Mensch hat seinen Verstand nicht von der Natur als Geschenk erhalten. Er hat ihn sich mit seinen eigenen Händen mühsam erworben.
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