„Britt ist meine Freundin, Karsten, und zwar seit unserer Kindheit. Ich kann nicht einfach zusehen, wie sie jemand verletzt.“
Karsten schluckte, das konnte ich durchs Telefon hören. Dann klang es ganz leise vom anderen Ende der Leitung: „Hanna, Britt ist eine wunderbare Frau. Ich habe unglaubliche Sehnsucht nach ihr, glaube mir, hier zu sein, soweit von ihr entfernt, das schmerzt manchmal.“
Ich musste lächeln und sagte ganz leise: „Karsten, Britt ist eine Schwedin, durch und durch. Sie hat etwas Filigranes, aber auch etwas Robustes, um der harten Natur zu begegnen. Sie lässt sich nicht unterkriegen. Wenn sie am Boden liegt, steht sie immer wieder auf, klopft sich die Hände ab und beginnt von vorne. Sie ist eine Kämpferin, aber gleicht auch einer skandinavischen Göttin.
Ihr Gesicht strahlt, es kommt aus ihrem Innern, sie ist sehr schön, hat eine sehr zarte Haut, trotz ihres Alters ist sie unglaublich attraktiv und selten geht man an ihr vorüber, ohne einen zweiten Blick zu riskieren. Ob Mann oder Frau, sie zieht Menschen in ihren Bann. Sie hat einen unglaublichen Humor und sie ist sehr verständnisvoll, kritisiert meist nur sachlich, kann albern sein wie ein Kind und hat sich das Mädchenhafte erhalten. Sie ist intelligent und sehr fleißig, arbeitet Tag und Nacht und schafft etwas aus ihrem Innern heraus. Zudem hat sie Ziele, die sie gerne umsetzen möchte.“
Ich zögerte einen Augenblick. Wenn Karsten meine Telefonnummer kannte, dann wusste er sicher auch, dass Britt mir nicht nur Mails und SMS, sondern auch Fotos von ihm gezeigt hatte. „Wenn ich mir dein Bild anschaue“, fuhr ich nachdenklich fort, „dann denke ich, ihr würdet sehr gut zusammenpassen.“
„Wow, Hanna, du hast sie gerade so beschrieben, wie ich sie mir vorstelle. Sie hat mich in ihren Bann gezogen, es liegt ein Zauber in der Luft. Ich spüre das, trotz dieser Entfernung, die zwischen uns liegt.“ Seine Stimme schien vor Emotionen zu vibrieren. „Ich liebe sie über alles, obwohl ich sie noch nie sah. Wir werden uns bestimmt noch öfter unterhalten, Hanna, und ich möchte mich bei dir für dieses tolle und offene Gespräch bedanken. Mir war es wichtig dich persönlich zu sprechen, die Frau, die uns begleitet, die über diese Liebe schreibt. Ich danke dir für deine Mühe und auch dafür, dass zwischen uns beiden Vertrautheit ist."
„Weißt du Karsten, leg deinen Selbstzweifel ruhig ab, sie liebt dich von ganzem Herzen. Vergiss das nie und zweifel nicht mehr. Sie ist ein steter Mensch und sehr verlässlich. Das wollte ich dir noch mit auf den Weg geben. Lieben Dank für deinen Anruf und dein Vertrauen in mich. Bis bald und einen tollen Tag.“
„Auch für dich Hanna!“
„Bis bald Karsten!“
Nachdenklich beendete ich das Gespräch. Es war schwer, sich dem Sog der Gefühle zu entziehen, die sich zwischen meiner Freundin und ihrem Geliebten aufbauten. Britt gönnte ich Glück von ganzem Herzen, Karsten nach diesem kurzen Telefonat nun plötzlich auch. Das überraschte mich ein wenig. Alle Zweifel, die ich gehegt hatte, alle Sorgen, er könne mit Britt spielen und sie am Ende nur unglaublich verletzten, waren in mir aus unerfindlichem Grund wie weggeblasen. Wenn das Schicksal es vorsah, dass diese zwei zueinander fanden, wer war ich denn, daran zu zweifeln, dass es seine Richtigkeit haben würde?
Emails mit immer deutlicher formulierten Sehnsüchten folgen hin und her. Die Nächte hätten tausend Stunden länger sein dürfen, sie konnten sich nicht voneinander lösen.
Es folgten Tage und Wochen, die ausgefüllt waren mit Schreiben, Handys, die heiß liefen und Mail-Accounts, die bis zum Morgengrauen gefüllt wurden, man quoll über vor Sehnsucht und Verlangen, sich endlich zu sehen.
Ihr Schriftverkehr war so voller Harmonie, Leben, Verstehen, Zuhören, sich in Gedanken liebend, das war unglaublich. Sie telefonierten in der Weihnachtsnacht, man wollte den anderen berühren, seine Nähe spüren, nur die Entfernung, die zwischen ihnen lag, gebot ihnen Einhalt. Hinzu kamen die familiären Verpflichtungen der beiden Liebenden. Wie Magie wirkte das Verlangen nach dem anderen auf sie, äußerte sich in der Sehnsucht, sich wenigstens stündlich einmal kurz zu schreiben, darüber zu berichten, was man gerade tat und woran man dachte.
Inzwischen hatten beide viel über sich erzählt, was sie mochten, womit sie sich gerne beschäftigen, sie sprachen über Sport, Hobbys und Leidenschaften, Kleidung, bis sie beim Thema der sinnlichen Düfte angekommen waren.
Britt erzählte von ihrem Vanilleduft und ihrem Parfüm. Flo bevorzugte einen männlich herben Duft mit Zedernholz. Britt kannte es nicht, also besorgte sie sich eine Flasche. Somit konnte sie seinen Duft Tag und Nacht einatmen.
Sie gewöhnten sich von Stunde zu Stunde mehr aneinander.
Die große allgemeine Grippewelle hatte auch vor Britt nicht Halt gemacht. Viele in ihrem Umfeld waren mittlerweile erkältet und sie hatte gewusst, dass es nicht lange dauern würde, ehe auch sie an der Reihe war. Es hatte sie richtig erwischt, mit allem was dazugehörte. Schwächegefühle im Körper, Schüttelfrost, Husten, Schnupfen und Heiserkeit. Aber sie dachte, besser jetzt, als über die Feiertage, denn diese würde sie schon gerne im Kreise ihrer Familie erleben und das Fest ein wenig genießen wollen, auch wenn in diesem Jahr vieles anders geworden war, war es ihr wichtig, ein schönes Familienfest zu begehen.
Die Kinder würden dann anwesend sein und gute Gespräche und ein schönes Miteinander wäre Balsam für ihre Seele, wo sie doch alle vom Alltag im Laufe des Jahres aufgefressen wurden. Zudem würde sie gerne die Feiertage dazu nutzen, um über sich und Karsten einmal nachzudenken, das zu verarbeiten, was da eigentlich gerade mit ihnen geschah. Sie dachte an die Zeit vor Flo.
Die letzten Jahre waren mühselig gewesen. Ihre Ehe vegetierte einfach nur dahin, freundschaftlich zwar, aber mehr auch nicht. Man ging sich aus dem Wege, lebte nebeneinander her. Eines Tages würde sie erschrocken in den Spiegel schauen und erkennen, dass sie alt geworden sei. Ja, Britt hatte einen Schreck bekommen, wie die Zeit davonlief. Tagtäglich sah sie sich im Spiegel, kämmte sich mechanisch wie ein Roboter das Haar, ohne den Glanz darin zu erkennen, wusch sich täglich ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Haut, ohne die Weichheit zu spüren, die sie immer noch hatte, trotz ihrer achtundvierzig Jahre, stand auf der Waage, sah einige Kilogramm Übergewicht, doch es störte sie kaum, selbst nicht, dass es von Woche zu Woche schleichend mehr wurde.
Was war nur geschehen mit ihr? Warum ließ sie sich seit Jahren nur so undiszipliniert treiben? Fehlte ihr wirklich die Aufmerksamkeit? War es das Salz in der Suppe, was das Leben schmackhaft machte? Hatte sie deshalb an allem das Interesse verloren, weil es eh keine Rolle spielte? War ihr das tägliche Allerlei mittlerweile so egal geworden, weil man jeden Schritt, den man im Laufe des Tages ging, morgens früh beim Aufstehen schon kannte?
Das Wort Liebe hatte für sie keinerlei Bedeutung mehr. Natürlich liebte sie ihre Kinder, mochte sie ihren Beruf und ihre Mitmenschen, hatte auch gute Freunde an ihrer Seite, doch das Entscheidende war abhandengekommen, beziehungsweise hatte sie es noch nie so erlebt, wie jetzt mit Flo. Ihr war klar, dass jede Beziehung anders verlief, es kam auch auf den Menschen an, dem man Gefühle entgegenbrachte. Auch darauf, wie dieser seine Zuneigung zeigte. Und sie fühlte, je älter sie wurde, desto mehr Reife bekam sie, desto mehr Gedanken machte sie sich darüber, was ihr wirklich wichtig war. Und eine Erkenntnis war in ihr gereift: Für ihre innere Zufriedenheit und ihr Leben war nur sie allein verantwortlich. Es war ihr Leben, nur sie konnte ihre Seele pflegen und ihre Bedürfnisse befriedigen und für sich einmal etwas Gutes tun.
In ihrem Inneren begann eine Rebellion. Es waren regelrechte Tritte, die ihre Seele gegen sie selbst ausrichtete, damit sie endlich wieder in Bewegung kam. Immerhin war sie im besten Alter, in dem man eigentlich noch einmal etwas Neues beginnen und sich und seinem Leben eine Chance geben durfte. Meistens, wenn sie an einem solchen oder ähnlichen Punkt angekommen war, geschah etwas, als würde es von einer anderen Stelle angeordnet werden, und Britt sah es dann als eine Art Fügung, ein Anstoß, endlich in die Bewegung und Veränderung zu kommen. Und als es nun wieder einmal soweit gewesen war, da hatte sie ein paar Zahlen verdreht und einem wildfremden Mann eine SMS geschickt, die eigentlich ganz woanders hätte ankommen müssen, und nun bebte ihr Herz und zitterte ihr Körper vor Verlangen, wenn sie nur seinen Namen aussprach „Flo!“
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