Sie lächelte ihn dankbar an. Und er fuhr fort, ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern: »Kein Problem, ist doch nicht die Welt, setz dich mal ins Wohnzimmer und hol dir einen Kaffee, ich räume den Wagen aus … oder sollen wir die Sachen einfach drin lassen und nachher direkt zum Platz bringen? Draußen ist es wahrscheinlich kälter als in unserem Kühlschrank.«
»Bestimmt«, nickte Karoline und gab ihm einen Kuss. »Ich dachte, du würdest sauer sein, weil ich dich nicht vorher gefragt habe …«
»Und was hätte das geändert?«
»Weiß ich nicht, aber ich hätte fragen können.«
»Dann frag beim nächsten Mal.«
»Okay. Brauchst du noch lange?«
»Vielleicht eine Stunde. Wann soll die Feier steigen?«
»Harry meinte irgendetwas vom späten Nachmittag, also so um vier oder fünf?«
Richard sah auf einen kleinen Reisewecker, der neben seinem Computer stand, und rechnete nach.
»Das sind noch ein paar Stunden, sollen wir vorher noch etwas spazieren gehen und uns die Umgebung ansehen? Also, mal näher, nicht nur mit dem Auto durchfahren, so wie bisher.«
»Au ja, dann mach mal schnell fertig.«
»Okay.« Er schob sie sanft von seinem Schoß, setzte die Kopfhörer wieder auf und widmete sich seiner Arbeit. Karoline ging leichten Herzens nach unten und hätte sich gerne auf ihr Sofa gelegt, aber das war vollgestellt mit allerhand Dingen, und sie hatte keine Lust, es freizuräumen, daher setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee auf die Arbeitsplatte der Küche und sah nach draußen. Dabei betrachtete sie nichts Bestimmtes, sie starrte einfach vor sich hin, bemerkte nicht den Hausmeister, der seine Beute an Blättern in einem großen Sack hinter sich herzog und im Müllcontainer versenkte, nicht den alten Mann, der wie in Zeitlupe vorbeischlich, und nicht die Vögel, die der Kälte zum Trotz der Sonne entgegenträllerten. Sie war einfach zufrieden und wartete.
Zunächst gingen Karoline und Richard nebeneinander her, irgendwann suchte seine Hand die ihre und fand sie, sie rückten näher aneinander und schlenderten durch den alten Stadtteil, der ihre neue Heimat sein sollte. Viele Straßen hatten noch Kopfsteinpflaster, es gab etliche enge Gassen und Einbahnstraßen, kleine Eckkneipen und ein gedrungenes Backsteingebäude, das jeden Moment in sich zusammenzustürzen drohte und ein Restaurant beherbergte. Sie beschlossen, hier eines Tages essen zu gehen, entfernten sich dann langsam vom alten Kern des Viertels und gelangten über einen Feldweg, der an einem kleinen Bachlauf entlangführte, zum Neubaugebiet, das gegenüber dem Rest des Viertels wie ein Fremdkörper wirkte. Sie zählten die Kräne und kamen bis zwanzig, bis dreißig. Überall gab es Schotterwege, Lehm klebte auf den Straßen, und obwohl es Samstag war, machte das Viertel nicht den Eindruck, als ob es bald zur Ruhe kommen würde. An jeder Ecke wurde gebaut, Laster fuhren herum, Erdreich wurde bewegt und Dächer gedeckt. Es gab ein Einkaufszentrum und eine Schule sowie einen Kindergarten, sie sahen Hinweisschilder, die zum Sportplatz zeigten, dessen Flutlichtmasten sie hinter einem kleinen Wall erkennen konnten, und ein Bürogebäude, in dem sich auch einige Ärzte niedergelassen hatten, wie die zahlreichen Schilder verkündeten, die dort angebracht waren. Und über all den Gebäuden schwebte der Eindruck dessen, was Karoline bei ihrer letzten Besichtigung eines Hauses in einem ähnlichen Viertel schon bedrückt hatte: Alles war neu, zu neu und wirkte dadurch irgendwie unbelebt und seltsam. Es gab einige Alleen, die Gärten der bewohnten Häuser waren bereits bepflanzt, aber all dem fehlte es an Kraft, Fülle und dem Charme des Alters. Die Bäume der Alleen waren nicht mehr als Schösslinge, die Hecken der Häuser gerade einmal hüfthoch, man sah nichts als Häuser, Gebäude weit und breit. Karoline dachte daran, wir ihr Haus einmal ausgesehen haben mochte und dass auch ihre kleine Siedlung einmal neu gewesen war, die Kastanie auf dem Platz kleiner und unscheinbarer und die Gärten für jeden einzusehen, nur getrennt durch Zäune und noch nicht geschützt durch Hecken und Büsche, die Jahrzehnte gehabt hatten, um sich auszubreiten und der Siedlung etwas Grünes, Lebendiges zu schenken, was diesem neuen Viertel noch für lange, lange Jahre abgehen würde. Dann wunderte sie sich, wie schnell sie von der Siedlung innerlich als »ihre« gesprochen hatte, nach welch kurzer Zeit sie sich offenbar bereits dort wohlfühlte. Sie überlegte, wie lange sie gesucht, wie lange sie sich die verschiedensten Häuser angesehen hatten, um endlich das Richtige zu finden, das, was zu ihnen passen würde, für eine sehr, sehr lange Zeit. Sie hatten viele Wohnungen und Häuser gesehen, ein kahles Kellerloch, vollständig in Weiß gefliest wie ein Schwimmbad, eine Wohnung, deren Balkon direkt auf eine Autobahnbrücke zeigte, Hochhäuser, bei deren bloßem Anblick sie schon wieder kehrtgemacht hatten, ohne sich weiter umzusehen, und schließlich eine endlos scheinende Reihe von Häusern, bei denen sie sich teilweise wundern mussten, wer hier jemals wohnen sollte. Sie hatten Neubauten gesehen, aber auch Gebäude, bei denen der Rohbau gerade einmal abgeschlossen war, ihnen der Makler aber vollmundig versprach, dass man innerhalb eines Monats einziehen könne. Sie hatten ein Haus bestaunt, in dem es einen Lastenaufzug gab, aber leider auch eine Fabrikbelegschaft, die das Wegerecht besaß, durch ihren Garten zur Arbeit zu gehen. Sie hatten sich baufällige Schuppen zeigen lassen und tolle Häuser, die nur den kleinen Nachteil aufwiesen, dass die Straßenbahnlinie beinahe direkt durch ihr zukünftiges Wohnzimmer führte. Und schließlich hatte es dieses Haus gegeben, ein kleines, altes Backsteinhaus mit Fensterrahmen aus Holz, kleinen Fenstern zum Platz hinaus und einem spitzen Dach, in das sie sich fast unmittelbar verliebt hatte. Bei Richard hatte es etwas länger gedauert, er war eher von ihrer Begeisterung begeistert, als vom Haus selbst, aber am Ende kam es auf dasselbe hinaus, sie hatten sich frohen Herzens und mit einem guten Gefühl im Bauch dafür entschieden. Und angesichts des Kontrasts, der sich jetzt wieder vor ihnen zeigte, war Karoline dazu geneigt, bereits von ihrem Zuhause zu sprechen. Sie machte eine unbestimmte Bewegung in Richtung der riesigen Baustelle, fand dann aber keine Worte.
»Schlimm, oder?«, fragte Richard, als hätte er ihre Gedanken erraten können, und sie nickte nur, mit Tränen in den Augen, die sie vor ihm zu verbergen suchte, sie selbst wusste den Grund nicht.
»Ich meine, für junge Familien vielleicht wirklich ideal, oder? Du wächst hier auf, die Kinder haben Gleichaltrige an jeder Ecke, sie gehen zusammen zum Kindergarten, zur Schule, und so weiter. Das ist schon nicht schlecht.« Jedoch Richard klang nicht überzeugt und Karoline gab zu bedenken, dass man sich dafür aber auch verstehen müsse. Was wäre denn, wenn der Nachbar, mit dem man sich den Garten teilte, plötzlich nicht mehr so freundlich war? Und was wäre, wenn die Kinder das Haus verließen, würden dann alle umziehen? Die Häuser seien doch schließlich zu groß für zwei Personen. Was wäre mit den ganzen Schulen? Würde man die dann wieder abreißen? Richard machte ein erstauntes Gesicht und sah sie an.
»Vielleicht macht man dann ein Altersheim draus. Und dass man sich mit den Nachbarn nicht versteht, kann uns auch passieren.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand!«, rügte Karoline scherzhaft und sah ihn kurz darauf verträumt an.
»Das ist schon toll. Unser Haus, meine ich.«
Richard nickte, sie blieben noch eine Weile stehen und betrachteten einige zerfaserte Wolken, die langsam über den Himmel zogen, aber das Wetter würde wohl schön bleiben. Ein Geruch von frisch gemähtem Gras lag in der Luft, der sich von Zeit zu Zeit mit unangenehmen Schwaden vermischte, die von Heizöl stammten oder vom Diesel eines leckgeschlagenen Lasters, der Erde von hier nach dort karrte, um Platz für eine weitere Reihe Häuser zu schaffen. Sie drehten um und gingen zurück, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Читать дальше