„Ja, steig ein, deine Jungfrauen bekommst du!“
„Also nein Volker, so etwas kannst du doch nicht sagen“, zischelte die Frau mit dem verbissenen Gesicht.
„Bleib cool, Lydie“, flüsterte er zurück. „Ich meine das doch nicht wörtlich!“
Inzwischen war die Kurzhaarige an Ali herangetreten, deutete durch die geöffnete Schiebetür ins Innere des Busses und sagte: „Nimm schon mal Platz.“
Umständlich kletterte Ali ins Innere und platzierte sich auf die linke Seite der mittleren Sitzreihe. Zu seiner Überraschung setzte sich die Frau direkt daneben. Mit einem angestrengten Lächeln streckte sie ihm Ihre rechte Hand hin: „Übrigens, ich heiße Helga.“
Ali rührte seine Hand nicht von der Stelle und dachte: ´Jetzt besitzt diese Unverschleierte schon die Unverschämtheit, sich ungefragt neben mich zu setzen und dann reicht sie mir noch ihre Hand. Weiß sie denn nicht, dass ich als Muslim familienfremden Frauen keine Hand geben soll? Schon gar nicht Unverschleierten, die keine Ehre haben.`
„Na, was ist?“, fragte Helga und hielt Ali die Hand eindringlich entgegen.
Distanziert griff dieser nun danach und sagte: „Friede sei mit dir, ich heiße Ali.“
Helgas Gesichtszüge hellten sich wieder auf. „Hallo Ali, ich dachte schon, du willst mir nicht die Hand reichen. Übrigens, das ist Wolle, der Jüngste aus unserer Gruppe. Er war mal waschechter Arbeiter.“ Mit diesen Worten deutete sie auf den kräftigen jungen Mann, der sich gerade zur Schiebetür hereingequetscht hatte und sich neben sie setzte.
Wolle warf Ali ein gequältes Lächeln zu und sagte: „Servus!“
„Friede sei auch mit dir“, entgegnete Ali und sah Helga fragend an.
„Der ist ein Urbayer“, meinte sie. „Die sagen immer - zur Begrüßung und zum Abschied. Ihre Hirnleistung reicht nicht aus, sich dafür zwei Wörter zu merken.“
Ein Grinsen huschte über Wolles Gesicht. „Dafür gibt es in Helgas alter Heimat keinen einzigen richtigen Berg.“
Ali drehte sich nach vorne. Nahezu gleichzeitig waren die beide vorderen Türen aufgegangen. Der Mann mit dem Zottelbart setzte sich ans Steuer, die Frau mit dem verbissenen Gesichtsausdruck nahm auf dem Beifahrersitz platz.
„Das sind Volker und Lydie“, erklärte Helga. „Volker ist Soziologe, unser Cheftheoretiker, Lydie gelernte Journalistin, unser Sprachgenie. Ich als Sozialpädagogin organisiere die Außenkontakte unserer Gruppe.“
Der Zottelbart sah Ali an und meinte: „Du musst wissen, wir sind keine Revisionisten, wir glauben noch an die Weltrevolution.“
„Bitte fahren Sie mich dahin, wo die Jungfrauen auf mich warten, die Revolution interessiert mich nicht“, antwortete Ali spontan.
Der Zottelbärtige verzog das Gesicht und startete das von Aufklebern übersäte Gefährt. Knatternd fuhr der Kleinbus zwei Seitenstraßen entlang, bevor er in eine vierspurige Schnellstraße einbog.
´Mann oh Mann, sind da viele Motorfahrzeuge unterwegs`, dachte Ali, während er interessiert nach draußen blickte. ´Und wie die alle glänzen!` Für einen Moment erinnerte er sich wieder an seine Heimatoase El Aoutsch. Dort gab es erst seit wenigen Jahren elektrischen Strom und kaum ein Fremder verirrte sich in diesen Ort. Nur zwei Großhändler besaßen einen staubigen Kleintransporter. Wer etwas zu transportieren hatte, benutzte meist Kamele oder Eselskarren. Zwei Mal die Woche kam ein Überlandbus vorbei, mit dem die Männer in die Provinzstadt fahren konnten.
Vergeblich hielt Ali Ausschau nach Transportkamelen und Eselskarren. ´Hier ist alles ganz anders als in meiner Heimat`, sinnierte er. ´Die Bewohner dieses Landes müssen sehr reich sein und ein bequemes Leben führen! Erstaunlich, wie diszipliniert die Menschen sind. Trotz der riesigen Schwärme von Motorfahrzeugen, die auf den Straßen fahren, ereignet sich kein Zusammenprall. Und immer, wenn ein rotes Licht von einem Metallständer aus leuchtet, halten alle Fahrzeuge davor an. Erst wenn eine grüne Lampe aufleuchtet, setzen sie sich wieder in Bewegung.`
„He Volker, wo fährst du hin?“, ertönte Helgas Stimme.
„Ins Kollektiv Knauerstraße“, brummte es zurück.
„Neee, das geht nicht! Die nehmen dort keine Flüchtlinge mehr auf. Zu viele Wanzen und Bullenobservierungen.“
„Scheiße, verdammt noch mal! Wie wär´s dann bei dir in der WG, Lydie, ein Plätzchen müsste doch noch frei sein?“
Lydie winkte ab. „Das macht der Enrico nicht mehr mit. Seit die beiden Verfolgten aus dem Surkasiland bei uns so abgehaust haben, ist er strikt dagegen. Und als Hauptmieter kann er sich quer stellen.“
„Was heißt denn abgehaust?“, fragte Helga.
„Zuerst haben sie unseren gesamten Wein- und Schnapsvorrat in den Abfluss geschüttet. Dann wollten Sie die WG-Kasse klauen und haben Enrico ein kapitalistisches Schwein genannt, als er sie zur Rede stellte.“
„Und wie hat Enrico darauf reagiert?“ fragte Volker.
„Er hat schließlich klein beigegeben. Dem Vorwurf, sein Besitzstreben sei ihm wichtiger als internationale Solidarität konnte er nichts entgegen setzen. Was Enrico aber nicht wusste, die beiden haben sich von der Knete ein Lamm gekauft, das sie in unserer Wohnung schächten wollten. Als er das an den Beinen zusammengebundene Lamm in der Badewanne entdeckt hatte, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Hassan und Bellili, so hießen die beiden, sind zunächst ganz ruhig geblieben und haben gemeint, ihr Glaube schreibe ihnen vor, nur geschächtetes Fleisch zu essen. Da ist die Tanja voll ausgeflippt, und hat herumgebrüllt, dass ihr als überzeugte Veganerin das Leben eines unschuldigen Lammes mehr wert sei, als die Blutrünstigkeit zweier männlicher Moslems. Daraufhin hat Bellili die Tanja gewürgt und gebrüllt, von einer deutschen Dreckshure lasse er sich nichts vorschreiben. Es gab ein riesiges Gerangel, das beinahe mit einer Messerstecherei geendet hätte.“
„Und was war mit dem Lamm?“, fragte Volker.
„Das haben die beiden bei einem islamischen Metzger schächten lassen müssen.“
„Ich wusste es schon immer“, warf Helga ein, „die Tanja und der Enrico sind verkappte Spießer, die fremde Lebensweisen einfach nicht akzeptieren. Ihr kultureller Rassismus macht sie blind für die Bedürfnisse diskriminierter Minderheiten.“
„Du spinnst Helga“, entgegnete Lydie, „irgendwo muss eine Grenze sein! Gerade wenn sich Typen alles herausnehmen wollen.“
Volker warf Lydie einen kurzen Seitenblick zu und sagte: „Darüber lässt sich sicher streiten, wir sollten aber lieber überlegen, wohin mit dem Oasen-Ali.“
„Hm“, machte Lydie und schwieg.
„Wie wär´s mit Kirchenasyl? Wir könnten doch mal ...“
„Nee, Wolle“, entgegnete Volker. „Mit denen haben wir abgeschlossen, seit die sich öffentlich gegen unsere Aktivitäten ausgesprochen haben und uns vorwerfen, wir instrumentalisierten Flüchtlinge für revolutionäre Zwecke.“
„Aber wohin denn nun mit dem Ali? Wir müssen ihn doch irgendwo unterbringen“, überlegte Lydie laut.
„An einen Ort, wo ihn die Häscher des kapitalistischen deutschen Schweinestaates nicht einfangen“, ergänzte Helga.
„Also an einen ausgefallenen Ort“, sinnierte Lydie. „Das wird ganz schön schwierig.“
„Hm, ein ausgefallener Ort - wenn ich bloß wüsste ...“, überlegte Helga halblaut. „Halt, eine Möglichkeit gibt´s. Die ist so verrückt, dass sie schon wieder genial ist.“
„Lass hören Helga“, sagte Lydie.
„Wir könnten ihn doch in einem Frauenhaus unterbringen!“
„Wau, das wäre ein Hammer!“, kommentierte Volker. „Vorausgesetzt die machen da mit!“
„Der Ali als einziger Mann in einem Frauenhaus, da würde kein Bulle draufkommen!“ Wolle schlug sich mit der Faust auf die flache Hand.
„Das geht nicht“, warf Lydie ein. „Die Frauen werden sicher auf die Barrikaden gehen – zu Recht!“
Читать дальше