1 ...8 9 10 12 13 14 ...27 Professor Hackehügel warf einem seiner Begleiter einen kurzen Blick zu. Dieser entrollte einen großen Papierbogen, auf dem unzählige Punkte wolkenförmig verteilt waren.
„Gucken Sie mal tief rein auf das Bild, junger Mann, ob Sie da Figuren erkennen“, sagte Doktor Hackehügel.
„Oh nein, mein Herr, ich sehe keine Figuren nur ganz viele Punkte“, antwortete Ali, nachdem er oberflächlich darauf geblickt hatte.
„Schauen Sie länger auf das Blatt, dann merken Sie, dass die Punkte Figuren ergeben.“
Konzentriert betrachtete Ali die vielen Punkte auf dem Papierbogen. Je länger er hinsah, desto deutlicher entdeckte er weibliche Rundungen - Frauenköpfe mit langen Haaren, Brüste mit Warzen, Beine, Hüften, erst zusammenhangslos, dann sich zu ganzen Frauenkörpern formend. Ja, das musste ein gepunktetes Bild all der Jungfrauen sein, die ihn erwarteten.
„Was sehen Sie nun?“, fragte der Professor, Ali eingehend beobachtend.
In seiner freudigen Erregung vergaß dieser erneut, dass er nicht mehr über seinen Wunsch sprechen wollte, und sagte aufgeregt: „Oh, ich sehe lauter Jungfrauen. Ich denke, es sind zweiundsiebzig und alle werden mir gehören.“
Der Professor drehte sich zu seinem Trupp Weißkittel hin, der ehrfurchtsvoll an seiner rechten Seite stand. „Na, da hat sich der Kollege Lackmus aber heftig getäuscht. Sie denken doch auch, meine Damen und Herren, dass wir Herrn Islami so nicht entlassen können!“
Seine Begleitung nickte einstimmig.
„Lassen wir ihn also hier,“ fuhr Hackehügel fort, „und informieren die Behörden. Die andere Maßnahme muss noch aufgeschoben werden. Sie Herr Islami, beruhigen sich wieder, alles wird gut. Wir kümmern uns um Sie.“
Angeordnet wie eine Herde Gänse verließ der Professor mit seinem Trupp das Zimmer. Erschrocken nahm Ali wahr, dass Dieters Wecker bereits Viertel nach vier anzeigte. Jetzt, da er seine Jungfrauen auf dem Punktebild gesehen hatte, wollte er unbedingt die angebotene Hilfe in Anspruch nehmen. Hastig zog er sich einen Pullover über. Dann warf er einen Blick auf das leere Bett von Dieter, der sich gerade in einer Gruppentherapie befand, und wünschte ihm im Geiste Lebewohl. Um kein Risiko einzugehen, hatte ihm Ali nichts von seinem Fluchtplan erzählt. Behutsam öffnete er die Tür und spähte nach draußen. Niemand war zu sehen. Nur aus einem Nachbarzimmer drangen gedämpfte Worte. Umgehend trat er auf den Flur hinaus und eilte auf die nächstgelegene Treppe zu. Problemlos erreichte er den Ausgang des Klinikgebäudes. Dem Pförtner ein freundliches Nicken schenkend passierte er die Pforte und durchquerte hastig den Klinikgarten, den er vormittags besichtigt hatte. Zielbewusst steuerte er auf das Tor des Hinterausganges zu, wo sich seine Helfer angekündigt hatten. Dabei vernahm er immer deutlicher Stimmen, die nach einem handfesten Streit klangen.
„Ihr habt ihn verscheucht, ihr falschen Antiimperialisten!“, keifte jemand.
„Nee, nee!“, tönte eine andere Frauenstimme hysterisch, „Ihr mit euren aufgesetzten Klassenkampfparolen habt ihm doch gar keine Chance gegeben, sich aktiv gegen den Schweinestaat zu wehren.“
Neugierig lugte Ali aus dem Tor nach draußen. Insgesamt acht Personen standen, in zwei Gruppen aufgeteilt, neben zwei Kleinbussen und gifteten sich an. Zu jeder Gruppe gehörten zwei Frauen und zwei Männer, allesamt von ungepflegtem Äußeren. Auch die beiden Frauen, die ihm den Brief gegeben hatten, waren anwesend.
„Hallo“, rief Ali laut und trat aus dem Tor heraus. „Hier bin ich!“
Sofort drehten sich alle zu ihm hin. Nach einem kurzen Moment der Stille schimpfte die kurzhaarige Übermittlerin des ersten Briefes der anderen Gruppe entgegen: „Haut endlich ab, ihr Affen, wir sind die einzig legitime Kraft, die den Unterdrückten aus der einen Welt gegen den Faschismus in diesem Land beisteht. Der neue Inländer gehört uns!“
Die hagere Übermittlerin des zweiten Briefes fuchtelte mit ihren Händen und schrie: „Ihr Ärsche, die ihr nichts vom Aufbau der weltweit klassenlosen Gesellschaft im Zeitalter des Neoliberalismus und der Globalisierung versteht, seid nie und nimmer legitimiert, ein entrechtetes Subjekt aus der südlichen Hemisphäre vor den Schergen des kapitalistischen europäischen Schweinesystems zu retten.“
´Die benehmen sich, als würden sie um den richtigen Glauben streiten`, wunderte sich Ali. ´Nur, dass sie auf keinen Fall den richtigen Glauben haben können. Sonst wären die Frauen verschleiert und blieben von den Männern abgesondert. Oh, jetzt stimmen auch noch die Anderen in das Gekeife der beiden Weiber ein. Das ist ja nicht zum Aushalten.` „Ruhe mal“, rief er den Streitenden zu. „Wollt ihr mir nun helfen oder nicht?“
Sofort gingen die beiden Frauen, die Ali einen Brief gegeben hatten, auf ihn zu. Die Hagere meinte: „Willkommen bei uns, den Antikapitalistischen Fremden freundlichen Europäer n. Sag, was du von uns möchtest und wir geben es dir für deinen Kampf gegen das Schweinesystem.“
Ali wusste sofort, was er wollte: „Ich will zweiundsiebzig wunderschöne Jungfrauen, die mir alle treu ergeben sind!“
Die Frau blieb stehen, lief im Gesicht rot an und stammelte: „Der will wa wa was? - Zweiundsiebzig Jungfrauen, die ihm treu ergeben sind, der spinnt!“
„Nicht mit uns!“ tönte die andere Frau aus ihrer Gruppe. „Dieser Obermacho soll bleiben, wo der Pfeffer wächst. Kommt Leute, wir gehen wieder!“
„Richtig, den nehmen wir nicht bei uns auf!“, stimmte einer der beiden Männer mit ein und erntete ein grimmiges Nicken von seinem Genossen. Für einige Sekunden blieb die hagere Frau unschlüssig stehen, bevor sie missmutig kehrt machte. Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, stiegen die vier antikapitalistischen fremden freundlichen Europäer in ihre nKleinbus und fuhren davon.
Inzwischen drehte sich die Kurzhaarige zu ihren Leuten hin und fragte: „Sollen wir es mit ihm versuchen? Wenn er schon infiziert ist vom westlich-kapitalistischen Warendenken, das Frauen zu bloßen Gebrauchsobjekten degradiert, macht es vielleicht keinen Sinn mehr. Obwohl - er ist bestimmt ganz durcheinander wegen seiner Flucht und der Übersexualisierung in dieser Gesellschaft.“
Der ältere der beiden Männer strich bedächtig über seinen langen Zottelbart und sagte: „Na ja, versuchen wir es halt mit ihm, vielleicht läutert er sich noch zu einem eifrigen Mitkämpfer für die Revolution. Immerhin kommt er aus einer revolutionären Weltregion.“
„Aber sein revolutionäres Bewusstsein scheint nicht besonders ausgeprägt zu sein“, wandte die zweite Frau ein und entfernte eine Haarsträhne aus ihrem verbissenen Gesicht.
„Gib ihm halt ´ne Chance, Lydie“, meinte die Kurzhaarige, „bei dem Wolle hat es auch gedauert, bis er zu gebrauchen war.“
Der Genannte, ein kräftiger Mann um die dreißig, fuhr hoch: „Was heißt hier gedauert und zu gebrauchen? Ich bin völlig gleichwertig in eurer Gruppe, das habt ihr mir mehrfach bestätigt!“
„Entschuldigung!“, antwortete die Kurzhaarige gereizt, „ich habe nur gemeint, dass du erst nach einer gewissen Zeit zu einem handlungsfähigen Bewusstsein kamst.“
„Darf ich nun mit euch kommen oder nicht?“ fragte Ali genervt und sah den bärtigen Weltrevolutionär an, der anscheinend der Anführer war. „Ich bin extra wegen euch aus der Klinik geflüchtet.“
„Na gut, nehmen wir ihn auf“, meinte dieser. „Gibt es noch Einwände? – Nicht? Okay, dann ist die Entscheidung gefallen. Du kannst mit uns kommen.“
„Und wie sieht es mit Jungfrauen aus?“, hakte Ali nach.
Der Anführer warf Ali einen irritierten Blick zu, überlegte kurz und meinte beschwichtigend:
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