Die ungelenke Seniorin beugt sich nach vorne, um die Stelle zu berühren. Dann presst sie ihre schmalen Lippen zusammen, verwundert den Kopf schüttelnd.
„Aber dazu später.“ Sam wirft das Geschirrtuch schwungvoll über seine Schulter, setzt sich zu Mama Berta und ohne, dass sie ihn darum bitten muss, beginnt er zu erzählen: „Es war im April 1994, da kam es in meiner Heimat Ruanda zu einem riesigen Abschlachten. Hutu gegen Tutsi. Hunderttausende starben. Ach, was sage ich, Millionen starben. Tutsi hatten versucht in Kiriziya, also in Kirchen, vor den Hutu Schutz zu suchen, aber vergebens. Mit Äxten, Hacken, Eisenstangen gingen Brüder auf Brüder los. Sie erschlugen Männer, Frauen und Kinder und warfen sie in die Fluten des Nyabarongos, bis sein Wasser rot war. Wie Treibholz schwammen die aufgeblähten Leiber dahin.“
„Du bist Tutsi?“
Sam nickt.
„Und deine Familie?“
Er stockt, dann dreht er sich zur Seite und fischt eine Träne wie ein Sandkorn mit dem Daumen aus dem Augenwinkel. Betretene Stille breitet sich im Stop & Go aus. Berta erhebt sich aus dem klapprigen Bürostuhl auf Rädern und klopft Sam tröstend auf den Rücken. Sie will die Antwort gar nicht erst hören, doch da sagt er bereits: „Niemand – niemand hat überlebt.“
R osi ist in den kleinen Raum hinter der Bar verschwunden, in dem sie all das aufbewahrt, was sonst nirgendwo Platz findet und von dem sie glaubt, es irgendwann noch einmal zu brauchen. Von oben bis unten stapeln sich Ordner mit Rechnungen und Lieferscheinen nebst veraltetem Werbematerial über- und ineinander, während am Boden Kartons mit Ersatzteilen, Flaschen oder Schläuchen den Platz verstellen. Da sie ungestört sein möchte, schiebt sie hinter sich die schmale Kunststoff-Falttür zu. Mit der einen Hand greift sie in die Brusttasche ihres Overalls, um das gefaltete Papierchen herauszunehmen, mit der anderen wählt sie die darauf notierte Nummer. Nach zweimaligem Läuten meldet sich eine tiefe Männerstimme mit griechischem Akzent: „Yea.“
„Ich bin’s“, sagt Rosi leise, denn sie möchte vermeiden, dass Sam oder ihre Mutter von dem Gespräch erfahren. Zudem macht die Unsicherheit ihre Stimme heiser. „Ich bin es“, wiederholt sie. „Rosi Neuhauser vom Stop & Go. Ich soll … nein kann … nein soll mich unter dieser Nummer bei Ihnen melden.“
„Stop & Go?“ Der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung scheint kurz überlegen zu müssen. „Ja, ja, jetzt weiß ich“, bestätigt er sogleich, bevor er in einem sehr freundlichen Ton meint: „Schön, dass Sie sich melden. Haben Sie sich mein Angebot überlegt?“
„Ja.“
„Sehr gut. Dann kommen wir also ins Geschäft? Sie werden sehen, es soll Ihr Nachteil nicht sein, Frau Neuhauser.“ An das rollende R kann sich Rosi nun gut erinnern. Es ist derselbe Mann, der sie vor ein paar Wochen im Bistro besucht hat.
„Was muss ich machen?“
„Nicht sehr viel, glauben Sie mir. Können wir uns treffen?“
„Sicher. Kommen Sie zu mir?“
„Nein, nein. Ich schlage vor, wir treffen uns auf dem Parkplatz bei dem Einkaufszentrum Ost. Sagen wir, morgen Mittag, um zwölf Uhr?“
„Gut, ich werde da sein.“ Rosi zaudert nicht. Nun, wo sie schon einmal A gesagt hat, kann sie es nicht erwarten, B zu sagen.
„Sie werden sehen, das ist, wie sagt man gleich ... eine Win-win-Situation. Also dann – bis morgen.“
„Bis morgen.“
E s ist Mittagszeit. Wie zähe Magma treiben die Automobile langsam auf den Straßen dahin. Von allen Seiten drängen Autofahrer in den trägen Strom hinein, um langsam vorantreibend an einer anderen Stelle wie Teigpatzen aus einer Knetmaschine ausgeschieden zu werden.
Die mittägliche Hektik überträgt sich auch auf Rosi und Sam. Annehmen, herrichten, kassieren, reden, servieren. Die Tätigkeiten gehen fließend ineinander über, ohne einer bewussten Überlegung zu bedürfen.
„Wer ist der Nächste? Der Nächste bitte!“, rufen sie abwechselnd den Leuten zu, um zu verhindern, dass Zeit vergeudet wird. Jeder möchte so rasch wie möglich seine Fahrt fortsetzen, lange Aufenthalte an Raststationen sind nicht eingeplant. In all dem Gewühle von ungeduldig anstehenden Menschen, die, das Geld schon in den Händen haltend, nur darauf warten, dass Sam ihnen ein Tablett mit Speisen und Getränken entgegenstreckt, geht eine durchaus respektable Erscheinung gänzlich unter, die bei etwas ruhigerem Geschäftsgang Sam sofort ins Auge gefallen wäre.
Wie ein Wolf inmitten einer unruhigen Herde Ziegen treibt ein hochgewachsener junger Mann zusammen mit einer Familie durch die Schiebetür herein. Bedächtig nimmt er seine Sonnenbrille ab, um sich in der künstlichen Beleuchtung des Lokals schneller zurechtzufinden. Und so, als würde er nach einem freien Platz Ausschau halten, lässt er seinen Blick über das dichte Gedränge schweifen. Nach einem kurzen Moment der Orientierung schreitet er in den schneeweißen Sneakers leichtfüßig und zielstrebig auf den Ort seiner Bestimmung zu.
„Hi“, meint er lässig, ohne die Hände aus den Taschen der Lederjacke zu nehmen. „Du bist wohl Ruth? – Ich bin Ingo.“
Wie vom Blitz getroffen starrt die junge Frau, die gerade damit zu tun hat, die Postings ihres Freundeskreises zu kommentieren, auf die Neuerscheinung im Bistro. Könnte er ihr Herz jetzt pochen hören, er würde sie gar nicht erst verstehen, so laut hämmert es in ihrer Brust. An Ingo hat sich die Schöpfung in überschwänglicher Weise ausgetobt. An ihm ist alles so, wie Ruth sich einen Mann vorstellt. Groß, schlank, blond, perlweiße Zähne hinter dem verführerischsten Lächeln, das die Welt je gesehen hat. Wie das geniale Werk eines Bildhauers lässt er der Betrachterin keine andere Wahl, als ihn fortwährend entzückt anzusehen. Dieser Mann kann alles von ihr haben, so viel steht für Ruth fest.
„Ja, genau. Ich … bin … Ruth“, stammelt sie vor Begeisterung und vor Unsicherheit zugleich.
Ingo zieht den Stuhl vom Nebentisch heraus und setzt sich rittlings darauf. „Nicht schlecht“, meint er beiläufig. Dabei beäugt er sein Gegenüber ungeniert vom Kopf bis zu den Füßen, vor allem die Beine scheinen es ihm angetan zu haben.
„Wie groß bist du?“
„Eins zweiundachtzig.“
„Das ist zwar gerade mal untere Grenze“, er scheint zu überlegen, „aber das heißt ja nichts. Und was hast du auf dem Gebiet schon alles gemacht?“
Für Ruth ist und war es nie eine große Sache, Leuten etwas vorzuschwindeln, solange sie nur selbst davon überzeugt ist. Diesmal aber ist sie so restlos entwaffnet, dass sie aufrichtig, als wäre sie an einen Lügendetektor angeschlossen, Rede und Antwort steht. Nur mit der uneingeschränkten Offenheit möchte sie diesem Fachmann begegnen, denn alles andere wäre Dilettantismus, und den würde gerade Ingo sofort durchschauen. Weshalb sie ehrlich einräumt: „Eigentlich habe ich noch gar nichts gemacht.“
„Umso besser“, freut er sich und klopft sich auf die Oberschenkel. „Ein komplett neues Gesicht. Das will die Branche. Ein neuer Stern am Himmel. Und ich bin es, der ihn aufgehen lässt.“
Ingo ist kein unbeschriebenes Blatt. Allerdings nicht auf dem Gebiet der Modelfotografie, sondern vielmehr auf dem der Kleinkriminalität. Sein Spezialgebiet heißt Betrug. Dabei geht es nie um viel, wie er es auszudrücken pflegt, aber doch um genug, dass er gut davon leben kann und dass er zwischen Mailand und Hamburg polizeilich gesucht wird. Ingo ist gelernter Versicherungskaufmann und hätte in diesem Fach sein Auslangen finden können, wenn er den Bogen nicht damals schon überspannt hätte. Mit fingierten Polizzen über diverse Versicherungsgeschäfte lenkte er geschickt Prämienzahlungen auf sein eigenes Konto. Was jedes Mal solange gut ging, bis tatsächlich ein Schadensfall eingetreten war und der Versicherte sich schadlos halten wollte. Da das Versicherungsunternehmen nichts von einem Versicherungsverhältnis wusste, war der Geschädigte leer ausgegangen. Gezwungenermaßen stieg Ingo aus dem Geschäft mit den Polizzen aus und konzentrierte sich kurzerhand auf etwas Neues: Gutgläubigen das Blaue vom Himmel herunter versprechen. Er verkaufte Haarwuchsmittel für Männer mit Vollglatze, Schlankheitswässerchen, Raucherentwöhnungskissen und vieles mehr. Jeder Wechsel des Geschäftszweiges zog einen Wechsel des Aufenthaltes nach sich. Vor einiger Zeit hat er die Sparte der Modelvermittlung für sich entdeckt, indem er jungen Mädchen die große Karriere als Fotomodel am Catwalk verspricht. Von Hamburg bis Rom, von Paris bis L. A. gibt Ingo vor, einflussreiche Persönlichkeiten zu kennen.
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