Nachdenklich zieht Rosi ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer Brusttasche. Sie trägt es seit Tagen mit sich herum. Auf dem zerfransten Zettel, der wie ein gebrauchtes Taschentuch von unzähligen Knitterfalten dünn geworden ist, verbirgt sich in Form einer stümperhaft gekritzelten Handynummer ein Angebot, das immer dringender die Notwendigkeit erfährt, angenommen zu werden. Zunächst steckt sie das Papier jedoch wieder zurück in die Tasche.
„Sam, versperr Säule zwei endgültig!“, hallt es aus der betonierten Zelle nach draußen. „Die muss erst einmal repariert werden, bevor wir sie wieder aufmachen.“
„Meine Güte. Das wird ein Tohuwabohu, ohne Säule zwei“, erwidert Sam, bevor er leise hinzufügt: „Und wer soll das bezahlen?“
A di Finder sitzt seit Stunden unbewegt an derselben Stelle. Er hält den Blick auf die Welt draußen fixiert und wendet ihn selbst dann nicht ab, als er von jemandem um Entschuldigung gebeten wird, weil dieser ihn beim Vorbeigehen angerempelt hat. Die Dunkelheit verschleiert längst das Geschehen der Welt vor der gläsernen Scheibe, gleichzeitig gibt sie jenes in den Wohnungen, das sich im Schein des Lichtes klar und deutlich abspielt, ungehindert frei.
In dem Häuserblock gegenüber regt sich familiäres Alltagsgetümmel. Mütter kommen mit Einkaufstaschen nach Hause, Kinder ziehen es vor, in das Fernsehgerät zu gaffen, anstatt sich ihren Schulaufgaben zu widmen, Väter packen Sporttaschen aus oder ein. Wie in einem Stummfilm laufen die Bilder der lautlosen, aber bewegten Szenen vor Finders Augen ab. Dort und da werden einfarbige Jalousien oder bunte Vorhänge vor die Scheiben geschoben, um der Welt draußen nicht alles preis zu geben oder um keine kostbare Heizungswärme zu verprassen.
An einem der Fenster aber wandert langsam die Jalousie nach oben, bevor der Vorhang zur Seite geschoben wird. Eine Frau öffnet es, um frische Abendluft in den Raum zu lassen. Von hinten tritt ein Mann auf sie zu. Er nimmt sie in den Arm, küsst sie und verabschiedet sich. Die Frau blickt auf die Straße hinaus. Als sie den Mann auf dem Bürgersteig sieht, winkt sie ihm noch einmal verstohlen zu. Dann schließt sie das Fenster und geht in den Raum zurück. Ein junges Mädchen, nicht mehr Kind und noch nicht Frau, steht plötzlich wild gestikulierend im Raum. Rasch zieht die Frau den Vorhang wieder zu.
Adi Finder, der mittlerweile genug Wein getrunken hat, schnippt wieder mit den Fingern, um Sam zu rufen.
Für den stillen Gast, der Sams Geschäftigkeit um diese Zeit längst kennt, stellt das Warten auf die Rechnung einen unnötigen Aufwand dar, weshalb er den Wert der Konsumation samt angemessenem Trinkgeld auf den Tisch legt. Er zieht seine Jacke über die Schultern und schiebt den Hut wieder über die Stirn, ehe er mit dem wendigen Gefährt zur Tür hinaus rollt.
Die Glasschiebetür des Stop & Go ist nicht breit genug, sodass Adi Finder mit seinem Rollstuhl und Ruth Ils nicht gleichzeitig hindurch können. Wie bei einem Frontalzusammenstoß prallen beide jäh aufeinander.
„He, geht’s noch! Was soll das? Wir sind hier nicht auf dem Nürburgring für Zweirädrige! Wenn du schon nicht laufen kannst, musste nicht auch noch meine Beine hinmachen!“
Finder richtet weder seinen Blick nach oben, noch antwortet er auf die unüberhörbaren Parolen der wenig galanten Blondine. Unbeirrt setzt er seinen Weg ins Freie fort, denn in all den Jahren nach seinem Unfall hat er gelernt, dass das Mitgefühl der Menschen exakt an ihrer eigenen Haut seine Grenze findet.
Das Stop & Go ist um diese Tageszeit gut besucht, sodass sich Ruth den Weg durch die träge Masse von bestellenden oder tratschenden Gästen mühevoll bahnen muss, ehe sie geradewegs auf den Tisch zu steuert, an dem Oli Klein schon auf sie wartet. Wie an jedem Abend verbringen beide auch heute ihren Feierabend im Bistro. Oli trinkt sein Bierchen, während Ruth sich einen Hugo gönnt.
„Der Idiot mit seinem Rollcabrio hätte mich fast niedergemäht“, beschwert sie sich so, dass es auch für die Gäste an den Nachbartischen nicht zu überhören ist. Dann fährt sie sich mit der Hand über ihre superfeinen Zehn-DEN-Seidenstrümpfe, um sie auf eine etwaige Beschädigung hin zu prüfen. Da sie keine schadhafte Stelle an den Strümpfen entdecken kann, widmet sie sich ihrem Lieblingsthema. „Schau mal, Oli, meine Nägel. Ganz frisch. Drei Stunden hat es diesmal gedauert.“
Die Hände wie zum Handkuss reichend, hält sie ihrem Freund die kunstvoll gestalteten Miniaturbilder auf ihren Fingernägeln unter die Augen. „Das Design ist eines der Aufwendigsten, das Silke draufhat“, erwähnt Ruth, nicht ohne auf die Leistung ihrer Freundin stolz zu sein.
Oli betrachtet mit der Lethargie eines Straßenbahnschaffners, der die Monatskarten der täglich fahrenden Dauergäste kontrolliert, das Resultat der stundenlangen Arbeit an Ruths Fingern. Er, der schon aus Hygienegründen seine Nägel bis auf die Fingerkuppen zurückschneidet, kann nur wenig Verständnis für die mit Ornamenten verzierten Nägel aufbringen. Dabei wäre es ihm auch komplett egal, was Ruth mit ihnen macht, wenn die Sache nicht so ins Geld ginge.
„Ach, Liebling, da fällt mir gerade ein“, flötet Ruth ihrem Freund mit Engelszungen ins Ohr, „ich wollte dich noch fragen, ob du mir in diesem Monat noch einmal mit einer kleinen Finanzspritze aushelfen könntest? Du weißt, du bekommst es schon nächsten Monat zurück.“ Ruth lächelt und zeigt ihre makellosen Zähne.
„Krieg ich nicht noch vom letzten Monat dreihundert?“, überlegt er laut.
„Die hab ich dir doch schon lange gegeben?“, stutzt sie und verzieht ihren Mund zu einer schmollenden Schnute.
Seit Oli Klein vor fünf Monaten Ruth Ils über ein Dating-Portal kennengelernt hat, hat sich so manches in seinem Leben geändert. Leicht wie eine Feder beginnt er den Tag. Wie unter dem Einfluss einer berauschenden Droge durchlebt er locker, gleichmütig, schwebend vor Glück, beinahe schwerelos den Arbeitstag, die alltäglichen Ärgernisse wie hinter einer Milchglasscheibe wahrnehmend.
Während er seine rußige Arbeit auf den Dächern verrichtet, ziehen wonnige Gedanken an seine Liebste wie aufgeplusterte Kumuluswolken vorbei. Die Liebe hat Oli wie ein Blitz getroffen und das trockene Land seines Seelenlebens in Brand gesetzt. Und dieses Feuer lodert, wie ihm scheint, ohne Unterlass und ohne ein Ende in Sicht zu haben. In jedem Augenblick ihrer Abwesenheit verzehrt er sich voller Sehnsucht nach Ruth. Bis endlich der Höhepunkt des nervenzerreibenden Liebesbegehrens mit dem Feierabend erreicht ist. Anfangs war es nur ein- oder zweimal in der Woche, mittlerweile kommen sie jeden Abend auf ein Bier und einen Cocktail zusammen. Der Willkommenskuss gleicht noch einem flüchtigen Aufeinandertreffen der begehrenden Lippen, aber für Oli stellt er jedes Mal einen sehnsüchtig erwarteten Genuss dar. Wenn Ruth dann ihre Hand auf seinen Arm legt und er ihre zarte Haut fühlt, überflutet ihn ein wohliges Gefühl williger Ergebenheit. Am verführerischsten aber findet er ihren Mund. Die vollen Lippen, die wie Federkissen sanft aufeinander liegen, fesseln seinen Blick und verzaubern sein Gemüt bis in die letzten Enden seiner Gehirnwindungen. An manchen Tagen weiß er sein Verlangen kaum zu bändigen, um sie nicht spontan, inniglich und leidenschaftlich zu küssen. Auch wenn Olis Kumpel über seinen liebestrunkenen Zustand lachen und ihn dafür aufziehen, keiner von ihnen hat ein Mädchen wie Ruth. Sie ist eine Prinzessin. Sie ist seine Prinzessin.
Für Ruth ist die Beziehung zu Oli etwas, das sie schon öfter erlebt hat. Was der Sache diesmal einen besonderen Reiz verpasst hat, ist der Umstand, dass Ruths Freundinnen den smarten Kerl mit dem sanften Blick hinter dem von Ruß schwarzen Gesicht so unwiderstehlich finden, dass sie sich den Hals nach ihm verrenken. Daher postet Ruth auf unzähligen Fotos sich und Oli in ebenso unzähligen Situationen, um nach wenigen Minuten unzählige Likes zu empfangen, die sie wie eine Siegerin auf dem Podest mit Stolz erfüllen. Aber Ruth hat in keinem Moment den Boden unter den Füßen verloren, um in höhere Sphären abzuheben. Und auch wenn sie sich mehrmals am Tag dabei ertappt, an Oli zu denken, so tut sie es nur, weil sie über die Dinge nachdenkt, die sie gerne in absehbarer Zeit realisiert haben möchte, wie einen Urlaub am Meer an einem weißen Sandstrand, teure Markenhandtaschen oder ein flottes Auto. So träumen beide, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise, von der Erfüllung ihrer Wünsche.
Читать дальше