Als Ruth ihn nun zum wiederholten Mal um Geld bittet, weiß Oli deshalb genau, dass er von ihr noch nie einen Cent zurückbekommen hat. Und trotzdem, auch wenn es ihm mit seinem Verdienst als Rauchfangkehrer nicht gerade leichtfällt, gibt er ihrer Bitte nach.
„Wie viel?“, fragt er geradeheraus.
„Dreihundertfünfzig?“, antwortet sie, ohne zu zaudern.
Oli nimmt aus seiner zerfransten Lederbörse vier Scheine und legt sie auf den Tisch, bevor es aus ihm herausbricht. „Ich muss dir unbedingt eine Neuigkeit erzählen!“
„Was denn für eine Neuigkeit?“
„Ich habe von einer Wohnung erfahren. Hier ganz in der Nähe. Gerade recht für uns beide. Nicht zu groß und nicht zu teuer. Was sagst du?“
Ruths vor Überraschung weit aufgerissene Augen sind echt, denn vieles kann sie sich vorstellen, aber nicht mit Oli in eine Wohnung zu ziehen. Allein schon, wenn sie an seine täglich rußigen Arbeitskleider denkt, an die kohlschwarzen Fingerabdrücke an Türen, an Schränken und an Tapeten oder an die klebrig grauen Schlieren in der Dusche, kann sie sich unter keinen Umständen einen gemeinsamen Haushalt vorstellen.
Weil Liebende nicht zwangsläufig zur Wahrheit verpflichtet sind, antwortet sie mit einem aufgesetzten Bedauern in der Stimme: „Das wäre sicher ganz toll für uns, Oli, aber ich habe auch eine Neuigkeit, und du wirst sicher gleich ganz stolz auf mich sein.“
Oli blickt verblüfft. „Ja, was hast du denn für eine Neuigkeit?“
„Ich bekomme demnächst meinen ersten Auftrag als Model.“
Auch Olis vor Überraschung weit aufgerissene Augen sind echt.
„Na, was sagst du?“, hackt sie aufgeregt nach.
„Ja, das ist wirklich eine tolle Neuigkeit“, bestätigt er ernüchtert wie ein Marathonläufer, der den Sieg um Haaresbreite an einen Mitkämpfer abtreten musste. „Das finde ich ja ganz super – wirklich!“, hört er sich sagen. Dabei ist er ehrlich bemüht, seine Enttäuschung, so gut er kann, zu kaschieren. Er möchte sich mit Ruth über ihre neuen Zukunftspläne freuen, weil er weiß, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als in die schillernde Welt der Laufstegmodels einzutauchen. Aber wenn er an ein gemeinsames Leben mit ihr an seiner Seite denkt, dann würde er sich für Ruth einen ganz normalen Beruf wie Verkäuferin oder Friseurin wünschen.
Oli nimmt einen langen Zug aus der Flasche, um seine Enttäuschung hinunterzuspülen, während Ruth aufgeregt auf ihrem Smartphone die jüngsten Postings durchgeht.
„Und wie kommst du zu dem Modelauftrag?“
„Durch Ingo.“
„Wer ist Ingo?“
„Ein ganz lieber Kerl. Du kennst ihn noch nicht.“
„Und woher kennst du diesen Ingo?“
„Aus dem Internet … Er macht ein paar Fotos, schickt sie an so eine Agentur und schon geht’s los. Und weißt du was? Dann läuft der Zaster. Pro Aufnahme gibt’s gleich drei, vier Mäuse bar auf die Hand.“
„Dann kannst du mir ja mein Geld zurückgeben.“
„Das kriegst du schon! Sei mal nicht so knausrig.“
„Ich mein ja nur.“ Oli legt den Arm um ihre Hüften, ehe er leise hinzufügt: „Lass uns noch zu dir gehen.“
„Heute ist ganz schlecht, Oli.“ Ruth hebt ihr Glas und trinkt den Rest auf einmal aus. „Ich muss noch allerhand vorbereiten, weiß du. Morgen soll’s ja schon losgehen.“
„Aber, was musst du denn großartig vorbereiten … als Model?“, wundert sich Oli laut.
W enn der Wecker mit seinem penetranten Surren um sechs Uhr dreißig bei Dagmar Weinerl läutet, kommt es ihr jedes Mal so vor, als sei es noch mitten in der Nacht. Selbst das grell zum Fenster herein blitzende Tageslicht hinter den geöffneten Vorhängen hilft nur wenig. Sie wirft sich von der einen Seite auf die andere und zieht das Kissen über den Kopf, um sofort wieder in einen lebhaften Traum einzutauchen, bei dem sich die Geräusche, die die morgendlichen Rituale ihrer Kinder erzeugen, mit den Bildern der Fantasie zu einer bunten Szenerie verweben.
Bei Peter ist es genau umgekehrt. Mit dem ersten Takt der Weckmelodie sitzt er aufrecht im Bett. Den Weckalarm stellt er immer fünf Minuten vor der Aufstehzeit. Mit Schwung zieht er die Bettdecke weg, schlüpft in seine Hausschuhe und geht ins Badezimmer. Nachdem er seine Morgentoilette – lange Dusche und kurzes Zähneputzen – erledigt hat, macht er sich in der Küche ans Werk. Davor weckt er Paul und Marie, indem er beim Vorbeigehen an ihre Schlafzimmertüren hämmert.
Peter ist fünfzehn, Paul zwölf und Marie acht Jahre alt. Warum Mama morgens schwer aus dem Bett kommt, weiß Peter. Es sind die langen Nachtdienste im Krankenhaus, die der Mutter mehr und mehr zusetzen. Wie nach einer Vollnarkose schleppt sich Dagmar an den Frühstückstisch, auf dem für jeden eine Schüssel mit Cerealien und ein heißes Getränk steht. Sie setzt sich schlapp wie ein nasser Lappen zu den Kindern, unfähig ein Wort zu sprechen.
„Es ist Post gekommen, Mama!“ Peter deutet mit dem Löffel in der Hand auf die Kommode. „Schaut so aus, als wäre ein Brief von irgendeinem Gericht dabei.“
Selbst wenn Dagmar ihr Todesurteil darin erfahren würde, wäre sie jetzt zu keiner Regung fähig. Ihre Arme und Beine sind schwer wie Blei, so als hätte man ihr jegliches Blut aus den Adern gezapft, weshalb sie nur leicht nickt, wissend, dass ihr Großer nicht zufällig auf die jüngste Post hinweist.
„Ich brauch noch Geld für die Schule“, fällt Paul gleich darauf Peter ins Wort.
„Einen Scheiß brauchst du“, kommt die Antwort des älteren Bruders wie eine gestreckte Faust auf ihn zu.
„Ich brauche auch Geld für die Schule.“ Das kam von Marie, die sich verteidigend auf Pauls Seite stellt. Ihre familiäre Courage hat sich dann und wann schon einmal zu ihren Ungunsten ausgewirkt, wenn Pete, wie sie ihren großen Bruder nennt, ihr das Fernsehen verboten hat. Marie weiß, dass Peter immer dann das Sagen hat, wenn Mama nicht zu Hause ist und dass das zwischen den Brüdern immer wieder zu Machtkämpfen führt. Wenn aber die Mama daheim ist, hat Pete nichts mehr zu melden. Diesmal aber liegt in Peters Stimme etwas, das Marie eine Brisanz signalisiert, sodass sie nicht länger auf das Geforderte pocht.
Dagmar erhebt sich vom Stuhl und geht wie ein ferngesteuertes Spielzeug zu ihrer Handtasche. Nachdem sie kurz darin kramt, hält sie ein paar Scheine in der Hand und reicht jedem der Kinder fünfzig Euro hin.
„Um den Brief kümmere ich mich später. Macht jetzt, dass ihr in die Schule kommt. Es ist spät.“
„Und was ist heute Abend? Bist du zu Hause oder … hast du wieder Nachtdienst?“, fragt Peter und Dagmar entnimmt seiner Stimme so etwas wie den Hauch eines Misstrauens.
„Mal sehen. Vielleicht übernimmt heute meine Kollegin den Dienst, dann bin ich bei euch zu Hause und wir kochen Spaghetti. Und wenn ihr Lust habt, machen wir einen Spieleabend.“
Marie und Paul drücken der Mutter jeweils einen Kuss auf die Wange, während Peter, den Blickkontakt meidend, nur ein kurzes, kaum zu vernehmendes „Tschüss“ über die Lippen bekommt.
Das ist der Moment, an dem Dagmars Schuldgefühl wie eine Stichflamme auflodert, so als hätte man Benzin in eine Kerze gegossen. Ihr Ältester ist schneller erwachsen geworden, als ihr lieb ist. Sie spürt, dass sich in seinem Kopf zermürbende Fragen wie Gewitterwolken aufbauschen und doch kann sie ihm keine brauchbaren Antworten darauf geben. Dagmar fragt sich, wie lange Peter ihr das mit dem Nachtdienst im Krankenhaus noch abnehmen wird und wie er reagieren würde, wenn er wüsste, wo sie sich während der Nachtstunden aufhält. Bis dahin aber stellt er eine große Hilfe im Haushalt dar, indem er sich um die Aufgaben der beiden Jüngeren, um das Abendessen oder um die Wäsche kümmert.
Nachdem sich die Tür hinter den Kindern geschlossen hat, muss Dagmar den Brief, auf dem ein fett gedruckter Stempel des örtlichen Gerichts prangt, nicht öffnen, um zu wissen, worum es sich bei dem amtlichen Schreiben handelt. Nach ein paar Minuten nimmt sie eine Schere und schlitzt das Papier am Falz mit Gewalt auf. Energisch zieht sie ein gefaltetes Blatt heraus. Ohne es zu öffnen, werfen ihre Augen einen Blick auf die Summe: 430.000 Euro. In ihrer Magengrube rumort es. Diese stolze Summe und Gerds Tod sind der Preis für einen Augenblick Unachtsamkeit. Die Unachtsamkeit für die Dauer einer kurzen SMS mit den Worten „Bin gleich da!“, die sie sich nie verzeihen wird können.
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