Aber was hatte ihn so früh geweckt?
Herman Walker horcht instinktiv in die Dunkelheit hinein, hörte zuerst neben dem kaum wahrnehmbaren Summen seines Radioweckers nichts als Schwärze. Erst nach einer Weile vernahm er das fremde Geräusch. Ein winzig leises und doch irgendwie durchdringendes Schaben. Sollte ihn etwa dieses feine Geräusch aus dem Schlaf gerissen haben? Es klang allerdings völlig unpassend für sein Schlafzimmer. Wie trockenes Herbstlaub, das von einem Luftzug ein paar Zentimeter über einen Steinboden bewegt wird.
Chhhhhhhhhr.
Das Geräusch wiederholte sich, in immer rascheren Abständen.
Chhhhhhhhhr.
Chhhhhhhhhr.
Herman spürte, wie sich die Haare auf seinen Unterarmen aufrichteten. Was immer dieses Geräusch verursachte, es schien sich seinem Bett zu nähern.
...
»Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will«
Henri Matisse
Es war einer dieser wunderschönen Herbsttage am Genfersee. Das Laub hatte sich mehrheitlich verfärbt. Doch noch hingen die meisten Blätter an den Zweigen. Der Wind verspürte noch keine Lust, dies gründlich zu ändern, war lau und mild. Selbst die Sonne freute sich an diesem Morgen übermäßig, schien freundlich und warm vom wolkenlosen Himmel, als sehnte sie sich den Sommer zurück.
Auch in der Villa in La-Tour-de-Peilz war wieder Ruhe eingekehrt, nach all den Aufregungen der letzten Wochen und Monaten. Der Rasen, vom Tau noch ganz feucht, glitzerte im morgendlichen Sonnenschein. Die Zweige der Bäume wiegten sich träge in der lauen Luft. Selbst die große Unruhe und Bewährungsprobe in der Beziehung zwischen Jules Lederer zu seiner Ehefrau Alabima schien an diesem Morgen besänftigt.
Der Selfmade-Millionär und frühere Problemlöser für reiche Klienten und internationale Konzerne hatte sich seit seinem Aufenthalt in Indien verändert. Nichts schien mehr übrig geblieben von seiner Rücksichtslosigkeit, selbst gegenüber weitaus Schwächeren, von seinem Starrsinn, auch gegenüber einer mehrere tausend Jahre alten Zivilisation mit ihrer weiterhin lebhaften Kultur. Ausgesprochen demütig schien der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger seine Wiedergeburt nach der Beinahe-Ermordung in einem indischen Gefängnis angenommen zu haben. Ja, der Subkontinent mit seinen Menschen und Religionen hatten Jules Lederer gleich mehrfach geprägt und umgepolt. Spülten sie zuerst seine bösesten Charakterzüge an den Tag, brachten sie ihn während der vielen Wochen Genesungszeit in einem Krankenhaus wieder zu Vernunft.
Ja, der alte Jules war wieder zurück. Der Jules ihres Kennenlernens. Vor fast zwölf Jahren.
Zumindest hoffte das seine Lebenspartnerin Alabima.
Jules Lederer hatte sich über zwei Jahrzehnte einen Namen gemacht, als gefährlicher, unerbittlicher und sehr erfolgreicher Kämpfer im Interesse einer sehr betuchten Klientel. Der Schweizer war dabei selbst reich geworden, konnte sich viele Extravaganzen leisten, wie die große Villa am Genfersee mit dem weiten Umschwung. Als Extrem-Kampfsportler beherrschte er das Töten mit der bloßen Hand. Allerdings hatte Jules Lederer, zumindest während seiner Berufsjahre, nur ungern Gewalt angewandt. Ein diplomatisches Vorgehen wurde damals vom Schweizer stets jeder Brutalität vorgezogen, auch wenn man in manchen Fällen eher von blanker Erpressung sprechen musste.
»Ich fechte mit dem Florette, nicht mit dem Zweihänder«, war eine seiner Maximen gewesen, »und Schattenboxen ist die höchste Kunst der diplomatischen Gewalt.«
Doch diese Zeiten waren für ihn lange vorbei, fast eine Dekade schon. Denn man durfte keine Familie gründen und sich gleichzeitig immer wieder in Todesgefahr begeben.
So jedenfalls die Auffassung seiner Ehefrau Alabima.
Die Äthiopierin war auch noch mit fast vierzig eine außergewöhnlich schöne Frau. Groß gewachsen wie viele Menschen aus dem Stamm der Oromo und ausgesprochen schlank, besaß sie trotzdem alle Rundungen einer aufregenden Milf in ihren besten Jahren. Ihre Tochter Alina hatte letzten Herbst ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Und ihr Adoptivsohn Chufu, der schon seit einigen Jahren in Brasilien lebte und arbeitete und auch dort geheiratet hatte, ging bereits gegen die dreißig.
Mehr als einmal hatte Jules Lederer seine Familie aufgrund seines früher so risikoreichen Lebens und der heiklen Aufträge wegen in Todesgefahr gebracht. Darum nahm ihm Alabima vor vielen Jahren das Versprechen ab, für keinen Klienten mehr in einen neuen Privatkrieg zu ziehen.
Jules hatte sich ihrem Wunsch gefügt, zwar höchst ungern, doch immerhin mit gutem Willen.
Womöglich war für den Schweizer aber bereits zu diesem Zeitpunkt der Zug längst abgefahren gewesen, der ihn noch in ein ruhiges, zufriedenes, bürgerliches Leben hätte zurückführen können. Denn sein letzter bezahlter Auftrag führte den Schweizer vor gut acht Jahren nach Mexiko und mitten hinein in die Hölle der Drogenkartelle mit all ihren Verbindungen bis tief hinein in die amerikanischen Geheimdienste. Nicht nur Jules und zwei seiner Freunde gerieten damals in höchste Bedrängnis. Auch seine Familie wurde bald einmal zur Zielscheibe, wurde bedroht und gejagt, von den Schergen der Drogenmafia genauso, wie von staatlichen Behörden, die ihre dunklen Geheimnisse zu schützen suchten.
In seiner großen Furcht um seine Liebsten beging Jules Lederer damals und drüben in Mexiko ein derart schreckliches und gleichzeitig völlig sinnloses Verbrechen, dass es ihn auch Jahre später noch in seinen Nächten verfolgte, ihn immer wieder schweißgebadet aufschrecken ließ. Damals hatten die Zeitungen weltweit über die bösartige Bluttat berichtet. Die Täterschaft konnte allerdings nie ermittelt werden.
Doch nach diesem ruchlosen Verbrechen hatte sich der Schweizer abrupt verändert. Vom früheren Sonnyboy, der gelassen jeder Gefahr trotzte, blieb nicht mehr viel übrig. Das strahlende Lächeln des ewigen Siegers war gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Das sinnlose Morden hatte sich tief in die Psyche des Schweizers gegraben, auch wenn die von ihm Getöteten allesamt Schuldige gewesen waren. So wurde sein schreckliches Verbrechen zu seinem persönlichen Albtraum, nicht nur aufgrund der eigentlichen Tat, sondern vielmehr als Ausdruck seiner damaligen Ohnmacht und seines völligen Versagens.
Mit den amerikanischen Geheimdiensten konnte sich der Schweizer später einigen, musste von ihnen kaum noch etwas befürchten. Und auch die Drogenkartelle hatten von ihm und seiner Familie abgelassen. Doch die wochenlange Furcht vor dem Schicksal seiner Liebsten, die ständige Anspannung wegen des Versteckspiels vor den staatlichen Behörden und den Häschern der Drogenkartelle, hatten tiefe Spuren an seinem Nervenkostüm hinterlassen, an seinem Selbstverständnis und an seinem Selbstbewusstsein stark genagt.
Wenig später begann Jules Lederer überall und jederzeit nur noch weitere mögliche Bedrohungen oder Feinde auszumachen. Ohne fassbare Gründe sorgte er sich immer stärker um das Wohl seiner Familie, fühlte sich verfolgt und überwacht. Er begann sich immer mehr einzuigeln und abzuschotten, selbst gegenüber seinen langjährigen Freunden. Jules kaufte damals auch eine Unmenge an Waffen und Munition zusammen, verwandelte die Villa am Genfersee zunehmend in einen Bunker. Gleichzeitig wurde der Schweizer immer unsteter, mürrischer, nervöser und leider auch brutaler. Zu Drittpersonen genauso, wie zu sich selbst. Und er ging auf einmal unnötige Risiken ein, die er früher stets gemieden hatte.
Als einige Monate später die Ärzte einen gefährlichen Gehirntumor bei Jules Lederer feststellten, waren die Sorgen von Alabima und ihm zwar riesengroß. Gleichzeitig bot die bösartige Erkrankung aber auch Anlass zur Hoffnung, nämlich dass alle diese Persönlichkeitsstörungen und Charakterveränderungen letztendlich auf der Krebserkrankung beruhten.
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