"Wenn du so 'n Zeh hättest wie Artur, würdest du überhaupt nicht auf die Straße gehen." Der Versuch, die Stimmung zu neutralisieren, war gut gemeint von Reggi, doch er verletzte das Ehrgefühl Arturs. Um so mehr, als Alois sofort in die Kerbe hieb: "Hihi, aber Fußballspielen konnte er!"
"Hast doch gesehen, wie er dabei gehumpelt ist", rief Kaspar.
"Und warum ist er nicht mit der Musik mitgehumpelt?", höhnte Alois.
"Weil wir noch was zu besprechen hatten", sagte Artur.
Alois fragte: "Hast 'ne Rede gehalten wie dein roter Liebknecht, was?"
"Der ist hundertmal schlauer als du."
"Ein Feigling ist er, ein Vaterlandsverräter!" Alois stand dicht vor Artur und zischte es ihm ins Gesicht. In Artur schoss eine heiße Welle hoch. Blitzschnell fuhr seine Hand vor, und er brüllte: "Das ist für den Feigling und das - für den Verräter!" Zwei Ohrfeigen brannten im Gesicht des Dicken.
Blind vor Wut stieß Alois mit der Faust zu. Artur wich aus, der Angreifer verletzte sich am Laternenpfahl. Es machte ihn noch rasender. Einen der Zuschauenden stieß er aus den Holzpantinen, raffte eine auf und drang auf Artur ein.
Dieser Schuft, mit einer Pantine gegen Fäuste! Jetzt drauf, und wenn du dran verreckst! Zielbewusst setzte Artur seine Schläge ins Gesicht des Gegners. Alois erkannte die Taktik und drang nun mit gesenktem Kopf auf den Feind ein. Artur gelang es, Alois die Pantine zu entreißen. Jetzt trommelte das Holz auf Hände und Schädel dessen, der mit ihm den Kampf unfair begonnen hatte. Alois konnte nur noch mit den Armen seinen Kopf schützen, "Hilfe, Hilfe - helft mir doch!" kreischte er.
Eine harte Hand packte Artur im Genick, riss ihn zurück. "Schämst du dich nicht? Mit einer Waffe gegen einen Waffenlosen?"
Artur wandte sich um, sah in zwei vorwurfsvolle Augen hinter einem Zwicker. Der Mann im dunklen Anzug mit dem steifen Kragen erinnerte ihn an Rektor Kunz.
"Er hat angefangen, mit der Pantine zu schlagen!" keuchte Artur. Erst als ihm das Kinn feucht wurde, spürte er, dass er weinte. Tapfer hatte er seinen Helden verteidigt, tapfer sich gewehrt und einen stärkeren, bewaffneten Gegner besiegt und nun wurde er beschimpft. Ein Junge weint nicht, sagte Vater, doch es lag nicht mehr in seiner Gewalt, dem guten Grundsatz treu zu sein.
"Jawohl, der Dicke hat angefangen", rief Kaspar, "alle haben es gesehen!" Aufgebracht wies er auf die Umstehenden. Selbst Alois' Freunde konnten dagegen nichts sagen.
"Gleichwie", zeterte der Mann mit dem Zwicker, "ihr solltet euch schämen. Macht, dass ihr nach Hause kommt!" Er fuchtelte mit seinem eingerollten Regenschirm.
Die Jungen folgten dem Rat. Artur und Kaspar gingen nebeneinander. Hat er aus Freundschaft zu mir gehalten oder wegen der Schularbeiten, schoss es Artur durch den Kopf. Gleich darauf schämte er sich des Gedankens und legte seinen Arm um die Schulter des Kleineren.
Alois entsann sich einer witzig sein sollenden Namensverdrehung, die er zu Hause aufgeschnappt hatte. Sie entstammte einem Pamphlet gegen Bebel und Wilhelm Liebknecht anlässlich des Leipziger Hochverratsprozesses. "Macht Beine, ihr Doofen, Nebel und Piepknecht - Nebel und Piepknecht!", schrie er Artur und Kaspar nach.
Die beiden Arbeiterführer verehrte Vater am meisten, neben Karl, dem Sohn Wilhelms. "Lass ihn jaulen", ermutigte Artur den Freund, "damit kann er uns nicht beleidigen. Er hat seinen Denkzettel weg."
Brüderlich drückten sie sich vor dem Leutnerschen Haus die Hand. Gedankenvoll lief Artur weiter. Außer dem Zeh gab es nun einige Stellen mehr am Körper, die schmerzten.
Als er in die Küche trat, saß die Familie beim Abendessen. Erschrocken starrten alle auf Artur, dem gar nicht bewusst war, wie verwegen er mit der Stirnbeule, dem geschwollenen Auge und dem geschlitzten Hemd aussah. Ehe die Mutter ihm Essen auftat, machte sie ihm einen kühlenden Kopfverband. Stoisch erzählte Artur, von Begeisterungsrufen Eugens unterbrochen und von Hedwig bestaunt, während er mit Heißhunger aß. Als sein Teller leer war und er verstohlen zum Herd sah, stiftete Hedwig begeistert den Rest ihrer Mahlzeit.
Der Vater hatte schweigend zugehört. Jetzt nahm er Artur bei den Schultern. "Man muss ihnen die Zähne zeigen, sonst nehmen sie uns unter die Füße!"
Seifenblasen schillern nicht mehr
Alle paar Tage gab es eine Siegesfeier, anschließend war schulfrei; denn überall siegten die deutschen Soldaten. Meistens hielt Rektor Kunz die Rede, manchmal Lehrer Neblich. Der ließ die Kinder das Hauen, Stechen und Schießen so miterleben, dass sie sich hernach selbst als die Sieger fühlten.
Die Blätter begannen sich zu färben, die Früchte reiften, und alle Stammtischkrieger sahen bereits die wertvolle Frucht dieses Jahres in deutscher Hand: Paris. Den Vormarsch der deutschen Truppen stoppte der "Retter" Joffre, er vollbrachte "das Wunder an der Marne." Nun wurde den germanischen Bierbankstrategen das Schlachten im Westen uninteressant, und sie wandten ihren Blick gen Osten, wo ihnen der "Retter" Hindenburg mit seinem "Wunder von Tannenberg" geschenkt ward.
Nach einer unerfreulich langen Pause wurde dann Anfang Dezember 1914 die Stadt und Festung Lodz erobert. Die ganze Schule freute sich auf einige Stunden staatsoffiziellen Schwänzens. Aber Neblich hatte an das Jahrespensum erinnert, an die Überlastung der verbliebenen Lehrer; denn die im besten Alter waren "zu des Kaisers Fahnen gerufen" worden. Nicht wenig Schüler fanden das vorteilhaft, Neblichs Pflichtstrenge dagegen unbequem. Sie schworen ihm Revanche. In seiner eigenen Klasse braute sich etwas zusammen. Kopf der Verschwörer war Alois, der durch Elternhaus und Erziehung eigentlich unbeirrbarer Parteigänger Neblichs hätte sein müssen. Aber der Hohn, den Neblich dem faulen Dicken des Öfteren zufügte, trieb den zuweilen auf die andere Seite der Barrikade.
Artur beurteilte den Lehrer gerechter; in einer Art abwartender Hochachtung. Stirnrunzelnd beobachtete Neblich, dass Artur seine Leistungen etwas drosselte, um nicht Klassenerster zu werden. Was Fräulein Marein fremd gewesen war, bei Neblich wurde der Klassenerste Aufpasser, der in den Pausen an die Tafel schreiben musste, wer sich laut und ungesittet betragen hatte. Das war nichts für Walter Beckers Sohn. Gern überließ er den Angeberposten einem Willigeren, meist war es Reggi.
Auf die Enttäuschung über die ausgefallene Siegesfeier kam Kaspar in geheimer Mission zu Artur. Alois schicke ihn. Ob Artur mitmache, bis auf Reggi seien schon alle Jungen der Klasse dabei. Wobei? wollte Artur wissen. Das wisse er selber nicht, erklärte Kaspar, aber sie scheinen ein dolles Ding vorzuhaben. Heute Nachmittag Beratung in Bemmlers Schuppen auf dem Hof hinter der Bäckerei. Artur überlegte, und seine Neugier siegte. Er sagte zu.
Kaspar kam nach dem Mittagessen. Sie machten Schularbeiten, dann wurde es Zeit loszutraben. Es hatte geschneit, der Schnee war liegen geblieben. Jede Schlitterbahn auf ihrem Weg probierten sie aus.
In der 'Nähe der Bemmlerschen Bäckerei erwartete sie Bruno als Posten. "Wo bleibt ihr denn, alle andern sind schon da", schnauzte er die beiden an. Erst auf ein bestimmtes Klopfzeichen wurde ihnen die Tür zum Schuppen geöffnet. Ihre Augen mussten sich an ein geheimnisvolles Halbdunkel gewöhnen. Über einen wurmstichigen Tisch war eine zerschlissene Decke gebreitet. Die flackernde Kerze in einem Flaschenhals kleckerte ihr Wachs auf den Samt. In einer zweiten Flasche steckte ein Tischbanner aus Pappe mit einem schwarzen Totenkopf und gekreuzten Knochen darunter. Die Geheimbündler hockten auf wackligen Stühlen und zerfaserten Sesseln. Artur sah, dass höchstens zwei Drittel der Jungen aus der Klasse gekommen waren. Alois schlug dreimal mit einem verrosteten Rapier auf den Tisch, dass der Staub aus dem Samt qualmte. "Gefährten! Da nun alle da sind, lasst uns beim Säbel unsres Bundes schwören, dass wir schweigen werden wie das Grab." Sie mussten den rostzerfressenen Stahl berühren und im Chor beteuern: "Wir schwören!" Wieder drosch Alois Staub aus dem Mottenfraß und fuhr in der feierlichen Prozedur fort: "Truchsess, verlese den Plan."
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