"Aber aus Hass, dass andere flaggen, stiehlst du ihnen die Fahne?"
"Ge-gestohlen hab' -habe ich sie nicht."
"Du hast sie heruntergerissen wie ein Vandale. - Hier vorn stell dich her; mit dem Gesicht zur Wand. Bis Schulschluss. Wer mit dir spricht, kommt daneben. Zu Morgen schreibst du hundertmal den Satz: "Ich schäme mich vor Gott und dem Lehrer für meine hässliche Tat."
Unterdrückte Aufregung herrschte in der Klasse, kurze geflüsterte Fragen, Schulterheben, Augenzwinkern. Nur Alois wirkte ruhig und ausgeglichen.
In der ersten Pause ging Artur unbekümmert zu Kaspar.
"Wie bist du denn dazu gekommen?"
Kaspar ließ grämlich die Mundwinkel hängen. "Der Dicke hat dauernd gedrängelt, wenn ich nicht ja sage, muss ich aus der Backstube, und er erzählt's Vater."
"Und dann hast du's gemacht?"
Kaspar senkte den Kopf. "Er hat Schmiere gestanden."
"Setz dich hin, Artur", rügte Reggi, "sonst kommst du an die Tafel."
Artur beachtete ihn nicht und fragte Kaspar: "Wer war noch dabei?"
"Keiner."
"Und niemand hat euch gesehen?"
Kaspar schüttelte heftig den Kopf.
Artur drehte sich um und ging auf Alois zu, der ein Gesicht machte, als sei nichts vorgefallen. "Du hast ihn verraten!"
Überrascht von der plötzlichen Beschuldigung, lehnte sich Alois verlegen zurück und zeigte Artur einen Vogel.
"Du warst dabei, bist der Einzige, der es gewusst hat", rief Artur wütend. Erregt sammelte sich die Klasse um die beiden.
Alois versuchte an Artur vorbeizusehen und rief zur Tafel: "Reggi, wer Radau macht, soll aufgeschrieben werden!"
Stolz wandte sich Reggi um. "Schon dran."
"Hilf ihm nur", Artur drohte zur Tafel hin, "deswegen sag ich dem Drecksack doch, was er ist. Erst kriegt er Kaspar rum, Neblichs Fahne abzureißen, weil er selbst zu feige ist, und dann verpetzt er ihn."
Rufe des Abscheus und der Verachtung mischten sich mit saftigen Schimpfwörtern gegen Alois. Der verteidigte sich hochroten Gesichts: "Schwindel doch nicht drauflos, du Piepknecht, ich habe Herrn Neblich nichts gesagt."
"Dann hast du zu einem andern gequatscht, und der hat's gepetzt", schrie Artur, "das ist genauso gemein!"
Wie das Wasser einer Pfütze, in das ein Stein klatscht, spritzten sie auseinander, als Neblichs scharfes Organ ertönte: "Ist hier ein Tollhaus?"
Unbeweglich wie Marionetten saßen sie und senkten die Köpfe. Jeder suchte sich hinter dem Vordermann zu verstecken. Jetzt kam ein Gewitter, wehe, wen der Blitz traf. Neblich sah zur Tafel. Einsam prangte dort ein Name: "Artur Becker. Neblich rief den Sünder: "Steh auf!" Artur tat es und sah den Lehrer an.
"Warum warst du laut?"
"Ich hab dem - dem da", er zeigte auf den Dicken, "die Wahrheit unter die Nase gerieben." Zustimmendes Gemurmel war zu hören. Unbeherrscht klatschte Neblich mit der flachen Hand aufs Pult. "Ruhe bitte ich mir aus!" Lauernd richtete er seinen Blick auf Artur. "War es auch wieder solch eine Weisheit wie: Mit schönen Reden wird noch lange kein Krieg gewonnen?"
Puterrot wurde Artur, doch er hielt tapfer dem Blick Neblichs stand und erwiderte: "Die alles aushecken und dann alles verpetzen, die werden nicht bestraft."
Einen Augenblick sah es aus, als wollte sich Neblich auf den Jungen stürzen. Dann richtete er sich kerzengerade auf und hatte sich wieder in der Gewalt. "Du maßt dir Urteile an, die dir nicht zustehen. Du bist hoffärtig, undiszipliniert, Artur Becker, dir fehlt die rechte Gottesfurcht. Damit du in dich gehst, stellst du dich neben Kaspar Leutner. Damit die Strafe Nachhall in deiner Seele findet, sehe ich morgen hundertmal den Satz von dir: Ich soll gegen meinen Lehrer nicht respektlos sein."
Artur stellte sich neben Kaspar und knuffte ihn heimlich kameradschaftlich. Teufel, war das Leben verzwickt. Da hatte er den unsinnigen Vorschlag des Dicken mit Neblichs Fahne von sich, Kaspar und den Freunden abgewehrt, und nun war wie durch eine Hintertür das Schicksal über Kaspar und ihn gekommen. Neblich hätte doch reinen Tisch machen können, alle bestrafen und den Anstifter Alois am meisten, diesen - diesen Judas. Artur freute sich eine Weile an dem treffenden Wort, das ihm aus der Religionsstunde eingefallen war. Wenn der Neblich nicht mal hier gerecht war, wie hielt er es dann in den großen Dingen?
Endlich war auch dieser schwere Vormittag zu Ende. Wieder einmal im Leid verbunden, gingen die beiden Sünder nebeneinander nach Hause.
Artur hoffte inständig, dass der Vater an diesem Abend Zeit für ihn habe. Er musste mit ihm über die Sache reden. Sie unterhielten sich jetzt seltener als früher. Die Schufterei bei der längeren Arbeitszeit, der Kummer über den Krieg, dem auch die sozialdemokratischen Führer die Kredite bewilligten, hatten den Vater müder und stiller gemacht. Dabei musste er noch froh sein, dass er bis jetzt nicht eingezogen worden war. Als zuverlässigen Facharbeiter hatte ihn die Firma reklamiert. Dem Vater war es recht, er war gar nicht wild darauf, den Heldentod zu sterben. Doch wusste er auch, dass besonders die "Schleimscheißer" reklamiert wurden, denen aber fühlte er sich am allerwenigsten zugehörig.
Gleich nach dem Abendessen tauchte Borbach auf, und Artur wusste, dass heute wieder nichts aus der Unterhaltung werden würde. Dafür gab es allerhand Interessantes aufzuschnappen. So setzte er sich still in eine Ecke und tat, als lese er.
Borbach fragte, ob Grundewski Bescheid wisse. Vater Becker winkte ab, an dem sei Hopfen und Malz verloren. Sie stritten eine Weile darüber, denn Borbach meinte, man müsse mit allen Arbeitern sprechen, Fäuste ballen im stillen Kämmerlein nütze wenig gegen den Krieg. Dann holte er eine Zeitung hervor, mit vielen rot angekreuzten Stellen. Vater las sie und wurde immer aufgeräumter. So lebendig hatte ihn Artur lange nicht gesehen. Ausdrücke fielen, deren Sinn er nicht verstand: Revisionisten, Sozialchauvinisten, Baseler Beschlüsse, Gummimann Haase und seine fünfzehn Lendenlahmen, die wieder einmal im Reichstag umgefallen seien. Eins wusste Artur, als er sich müde in seine Kammer stahl: Karl Liebknecht war der Einzige gewesen, der den Kriegsmachern und ihren Helfern im Reichstag die Wahrheit gegeigt hatte. Und in Borbachs Zeitung hatte etwas gestanden, was Liebknecht im Reichstag nicht hatte sagen dürfen: Die Großen mit ihren Generalen logen nur von Vaterlandsverteidigung, in Wirklichkeit wollten sie andere Länder erobern, damit sie noch mehr Menschen unter ihre Fuchtel kriegten, die für sie schuften sollten.
Artur war stolz auf seinen Helden Karl. Als Einziger gegen ein paar Hundert auftreten, dazu gehörte Mut.
Seifenblasen zerplatzen
Jeden Morgen, wenn die Tür hinter Vater zuklappte, begann Arturs "Frühschicht". Rasch sprang er aus dem Bett, wusch sich schnell und goss eine Tasse heißen Malzkaffees hinunter, gesüßt mit Sacharin. Dann griff er nach Kohleeimer, Sack und Hacke. Um diese Zeit kippten die ersten Werkwagen ihre Schlackefuhren ab. Kinder, Halbwüchsige und Rentner stürzten sich auf den staubenden schwärzlichen Dreck. Mit Geschrei machten sie sich die Beute streitig. Manchmal auch mit den Hackenstielen. Im August vierzehn, dachte Artur, als sie mit der Musik marschiert waren, als sie gesungen, gejubelt und sich umarmt hatten, waren die Menschen netter gewesen. Aber jetzt, nach zweieinhalb Jahren, war dies längst verflogen.
Heute kamen Artur und Kaspar um ein weniges zu spät. Die Bliedinghausener waren ihnen zuvorgekommen und ließen keinen anderen an den Haufen. "Gestern habt ihr's so mit uns gemacht!", schrien sie, obwohl es nicht stimmte. Unrecht zu bemänteln war man nicht faul, es gab genug große Vorbilder im Deutschen Reich.
Beide spurteten hinüber zum Werk. Sein riesenlanger Bretterzaun hatte Lücken. Dahinter lockte das Gelobte Land, zwischen den Schienen lag kostbares Heizmaterial, beim Rangieren von den Waggons gefallen. Es zu bergen war gefährlich wie Arturs Besuch bei einem Freund von der Kolonne russischer Kriegsgefangener am Martinofen.
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