Sie spielten auf dem Brachland zwischen den Ortsteilen Reinshagen und Vieringhausen Fußball. Aufgeschichtete Steine deuteten die Tore an, in den Boden gesteckte Stöckchen die Feldbegrenzung. Der Fußball war eine oft geflickte Lederhülle, statt mit praller Luftblase mit Lumpen gefüllt. Sie spielten verbissen, mit viel Geschrei. Arturs Stammmannschaft bildete jenes halbe Dutzend, das sich noch immer hin und wieder zu gemeinsamen Schularbeiten bei Beckers zusammenfand. Kaspar war ihr wendiger, unersetzlicher Torwart. Auf der Gegenseite kämpfte der Bäcker Alois mit seinen Mannen. Sie lagen 1:3 zurück und suchten ihre Torzahl durch grobes Spiel zu erhöhen. Einen Schiedsrichter gab es nicht, jeder Mann wurde auf dem Spielfeld gebraucht. So konnte es nicht ausbleiben, dass Fouls mit einem Gegenfoul geahndet wurden. Zum Glück spielten alle barfuß, da keiner Fußballtoppen besaß, die meisten nicht einmal Schuhe für den Sommer. Arturs Recken erhöhten auf 4:1, und die Alois-Leute wurden nun noch rabiater. Eben standen sich beide Mannschaften schimpfend und gestikulierend gegenüber, als jenes magische Bum-Bum-Bum aus der Innenstadt ertönte. Einen Augenblick standen alle lauschend, dann rief Kaspar: "Los, hin!" Er wurde von Alois angebrüllt: "Ihr habt da nichts zu suchen! Euer Liebknecht ist gegen den Kaiser und will, dass wir den Krieg verlieren. Für solche machen wir keine Musik!" Er spuckte aus und ermunterte seine Anhänger: "Kommt, Jungs, lasst die Roten!"
Im Laufschritt eilten sie vom Feld, zurück blieben bei Artur nur Kaspar und Reginald. Sie blieben aus Treue, denn sie wussten, dass Alois eigentlich nur Artur gemeint hatte.
Artur war wie gelähmt, der Schlag war so plötzlich gekommen. Die beiden Getreuen bedrängten ihn mit Fragen. Wer dieser Liebknecht sei, ob er wirklich gegen den Kaiser sei, und warum einer wünschen könne, dass Deutschland den Krieg verliere. Über das Letztere war sich Artur selbst nicht klar. Karl Liebknecht war ihm vertraut. Von ihm hatte Vater oft erzählt. Zu Karl blickte Artur auf, ihm lohnte es nachzueifern. Gestern Abend hatten Borbach und Vater heftig mit Grundewski gestritten, hatten Liebknecht verteidigt. Die Bewilligungsdebatte im Reichstag war in aller Munde. Tausende Presseorgane im Lande schimpften Liebknecht einen Vaterlandsverräter. Borbach und Vater meinten, er wäre noch nicht konsequent genug gewesen, hätte sich dem Fraktionszwang nicht beugen sollen, sondern gegen die Kriegskredite stimmen. Doch Artur war der Meinung Grundewskis gewesen, kein Deutscher dürfe wollen, dass sein Vaterland eine Niederlage erlitte. Aber konnte er dann an Karl Liebknecht zweifeln? Konnte er ihn aufgeben? Vor den beiden Freunden, vor dem dummfrechen Alois? Artur suchte in seinem Gedächtnis all das Gute zusammen, von dem Vater berichtet hatte. Dass schon Wilhelm, der Vater von Karl, mit Bebel für die Arbeiter gekämpft habe, damit es denen besser gehe. Dass er dafür ins Gefängnis geworfen wurde, die vaterlose Familie aber am Heiligabend, als eben die Tannenbaumlichter brannten, ausgewiesen wurde mit dem kleinen Karl und nun auf dunkler, vereister Landstraße fortwandern musste, sodass alle beinah' erfroren. Ob denn da einer den Kaiser und seine Leute gern haben könne, die so was aushecken?, fragte er Kaspar und Reginald.
Das kaum, meinten die beiden, doch glaubten sie es nicht so recht, schließlich hätten sie doch das Lied gelernt: "Der Kaiser ist ein lieber Mann ..."
Zum Glück fiel Artur der alte Piezker ein. "Wer bettelt an der Ecke vom Kaufhaus Alsberg?"
"Der alte Piezker", antwortete Kaspar und Reggi wie aus einem Mund.
"Was fehlt ihm?"
"Ein Bein", sagte Kaspar.
Reggi wusste mehr. "Es ist ihm abgeschossen worden von den Boxern in China, und er hat dafür einen Orden gekriegt."
"Vom Kaiser, nicht wahr?" Artur hoffte auf ein Ja Reggis, aber der schüttelte den Kopf. "Von seinem Hauptmann."
"Klar. Aber der Hauptmann kann ihm doch bloß den Orden geben, wenn es der Kaiser bestimmt."
Das sahen beide ein. Endlich konnte Artur fragen: "Und warum gibt ihm der Kaiser nicht so viel, dass Piezker nicht zu betteln braucht?"
"Mein Vater sagt, der hat mehr als wir", erzählte Reggi, "der reist bloß auf das Mitleid der Leute."
Das war Artur noch nie eingefallen, weil es ihm nicht in den Sinn gekommen wäre, selbst Derartiges zu tun. Verzweifelt suchte er nach einem Argument und war froh, als er fragen konnte: "Würde sich denn dein Vater in Wind und Wetter hinhocken, wenn ihr auch ohnedem satt zu essen hättet?"
Reggi überlegte noch, Kaspar fand: "Schön dumm. Immer hat der alte Piezker Husten und Schnupfen, und sie sagen, Rheuma hat er auch."
Artur war Kaspar dankbar. "So was sagen bloß die, die nicht wahrhaben wollen, dass der Kaiser seine verwundeten Soldaten hungern lässt, und die an solche verschwindelten Lieder glauben."
"Vielleicht weiß es der Kaiser nicht?" Reggi wollte sein Idol retten.
Kaspar fand die verblüffende Antwort: "Er hat's doch gewusst, dass er ihm den Orden gegeben hat. Da hätt' er ihm auch Geld geben sollen."
"Ein Bein war doch genug, muss sich Piezker noch Rheuma dazuholen?" stieß Artur nach, und Reggi war ernstlich nachdenklich.
Artur erinnerte sich der Erzählung Vaters von jenen Kaiserworten, die in der Welt Aufsehen erregt und nicht wenig dazu beigetragen hatten, der sozialdemokratischen Agitation mehr Gehör zu verschaffen. "Weißt du nicht, dass der Kaiser seinen Soldaten gesagt hat, sie müssen auf Vater und Mutter schießen, wenn er befiehlt?"
Reggi war betroffener als Kaspar. Ihm fiel nichts Besseres ein, als zu fragen: "Kriegen wir das noch in Geschichte?"
Artur lachte mitleidig. "Die werden sich hüten. Du rennst ja auch nicht auf die Straße und posaunst heraus, wenn du was Schlechtes gemacht hast."
Reggis Kaiserbild schien angeknackst. "Wenn der Liebknecht sich über den Kaiser geärgert hat ... Na ja - aber dafür können wir doch nichts. Deswegen darf er doch nicht wollen, dass wir den Krieg verlieren?"
Da war sie, die schlimme Frage, mit der sich Artur selbst noch herumschlug. "Der wird schon wissen, warum", versuchte er auszuweichen.
"Aber du weißt es nicht", triumphierte Reggi.
Artur erlebte zum ersten Mal, wie einen die Auseinandersetzung mit anderen oft schneller vorwärts bringt als die in der eigenen Brust. Er kam der Wahrheit näher, als er stotternd sagte: "Liebknecht will nicht, dass sich die Menschen gegenseitig totschießen. Aber der - der Kaiser, der will Krieg. Der hat immer mit dem Säbel gerasselt. Und nun - vielleicht meint Liebknecht, wenn so einer - wenn der Kaiser den Krieg verliert, dann geschieht ihm recht, damit - vielleicht, dass es dann mit dem verfluchten Totschießen aufhört, und keiner braucht mehr Rheuma zu kriegen beim Betteln."
Kaspar wurde das Gespräch zu schwierig, und in seiner praktischen Art brach er es ab mit der Frage: "Rennen wir noch hin?"
Artur begann umständlich, den Verband neu um seinen Zeh zu wickeln. Schon wieder eine Entscheidung, die sie von ihm verlangten. Lehnte er jetzt ab, würden sie allein gehen - zu Alois. Der hatte ihm nicht die Straße zu verbieten.
Der Verband saß. Artur richtete sich auf und sagte sehr selbstverständlich: "Los! Der Dicke soll mal kommen." Alois war zwar nicht mehr so aufgeschwemmt wie bei der Einschulung, doch den Spitznamen hatte er behalten.
Sie trabten los. Trotz seines Hinkens bemühte sich Artur, an der Spitze zu laufen. Sie kamen zu spät. Die Musik war verstummt, aus dem Stadtinnern strömten die Menschen zurück. Sie schwitzten, wedelten sich mit ihren Strohhüten Luft zu, und ihre staubigen Stiefel zertraten hie und da Blumen, die auf dem Pflaster welkten.
Kaspar sah Alois zuerst. "Da kommt der Dicke", sagte er, und in seiner Stimme war ein leichtes Zittern.
Fast zur gleichen Zeit entdeckte Alois sie. Mit wilden Gebärden feuerte er seine Rotte an. Sie umringten die Drei, die sich Rücken an Rücken um eine Laterne stellten. "Na, ihr Drietlöppel", frohlockte Alois, "euer Glück, dass ihr gekuscht habt." Er fühlte sich in der Übermacht und gedachte seinen Triumph auszukosten.
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