1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Es war schon dunkel, als sie zu Hause eintrafen. Die beiden Jungen wetteiferten darin, sich vor Mutter und Schwester mit ihren Abenteuern zu brüsten. Der Spott der Mutter über den gestohlenen Rucksack dämpfte ihren Eifer nicht, sie fanden, dafür wäre der Vater zuständig gewesen.
Schönheit ist nicht immer edel
Es war der aufregendste Sommer, an den sich Artur erinnern konnte. Obwohl nun große Ferien waren, kamen sie kaum noch zum Spielen. Nach dem Baden trieben sie sich stundenlang in der Stadt herum, die ausgewrungene Badehose über den Kopf gehängt. Das kühlte, und die Hose war trocken, ehe man nach Hause kam.
Ende Juni war das erste Extrablatt erschienen, und das hatte er in Remscheid noch nicht erlebt. "Schüsse in Sarajewo!" - "Feiger Meuchelmord!" - schrien die Überschriften, und überall sprachen die Leute vom Krieg. Die einen siegessicher, die andern bedrückt. Obwohl Artur den Kaiser und sonstige erlauchte Personen nicht mochte, fand er es hässlich, den Herrn österreichischen Kaisernachfolger und seine Frau umzubringen, wo nun durch die Schießerei womöglich ein Krieg losging. Vater und Mutter strahlten gar nicht, wenn die Rede darauf kam, die gehörten zu den Bedenklichen. Also musste Krieg was Schlechtes sein. Obwohl - Lehrer Neblich sprach anders darüber. Krieg ist die große Gottesprüfung, sagte er. Was Gott schickt, ist recht, und der Krieg ist recht, und Deutschland wird ihn gewinnen, sagte Lehrer Neblich. Der Krieg ist die große Zeit des Neuwerdens; mit dem Flammenschwert wird alles Faule aus dem Volkskörper ausgebrannt. Krieg ist außerdem die große Zeit der Taten und der Helden. Zwar hatte Neblich einen Fimmel mit seinem frommen Kram, aber seine Religionsstunden waren interessant, auch die andern Stunden, man lernte was bei ihm. Natürlich kam er gegen Fräulein Marein nicht an, und Artur war fast untröstlich gewesen, als sie die Klasse abgeben musste. Warum dachte Neblich anders über den Krieg als die Eltern? Die sagten, alles würde noch schlimmer werden; Neblich dagegen sagte, es würde so schön wie nie. Arturs Gefühle waren aufseiten der Eltern, aber sein Verstand wehrte sich dagegen. Es konnte einfach nicht sein, dass der Fromme schwindelte. Und Neblich konnte sich auch nicht irren, er wusste mehr als Vater. Nicht über Arbeitersachen und dergleichen, aber sonst. War auch kein Kunststück, Neblich hatte studiert. Neblich hatte auch gesagt, eines der besten Worte, das je ein Deutscher gesprochen, sei: "Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt." Der Bismarck hatte zwar das Sozialistengesetz gemacht, aber der Spruch war eigentlich mutig. Mut war richtig, also waren mutige Deutsche gut. Er, Artur, und alle Beckers waren Deutsche. Und wenn nun die Zeit der Helden kam, was war daran schlecht? Artur gefielen nun einmal Helden besser als Feiglinge. Helden hatten Deutschland groß gemacht, das stand in jedem Lesebuch. Vater sagte, das sei Schwindel, aber dass Deutschland nicht immer so mächtig war, das bestritt er nicht. Irgendwie musste es doch dazu gekommen sein, und weshalb nicht durch Helden und ihre Taten?
Eine Weile kam kein Extrablatt mehr. Die Stadt wurde wieder wie sonst. Die Leute beruhigten sich, und die Bedrückten hofften, die schwarze Wolke Krieg werde noch einmal vorüberziehen. Dann kam das heiße Juliende, und nun wurde es toll. Fast jeden Tag ein Extrablatt. Zuerst: "Österreich-Ungarn erklärt Serbien den Krieg"; dann: "Mobilmachung in Russland"; dann: "Mobilmachung und Kriegserklärung Deutschlands an Russland"; dann: "Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich"; dann: "Einmarsch in Belgien"; dann: "Krieg mit England." Der Sommerplatzregen von Weltereignissen wurde zum Wolkenbruch. Je mehr Feind, je mehr Ehr'; und immer feste druff, jubelten die von der Helden- und Tatenpartei.
Man hätte tausend Augen und Ohren haben müssen. Aber klug wurde Artur aus alledem nicht, so aufmerksam er auch den Schwätzenden, Redenden, Rufenden aufs Maul schaute. Die Bedrückten wurden immer stiller, die Lauten lauter. Nach der Mobilmachung war sozusagen jeden Tag Schützenfest. Blasmusik gab's sonst im Jahr nur ein paar Mal: bei Kaisers Geburtstag, beim Stiftungsfest des Kriegervereins und bei der Sedan-Siegesfeier. Zudem war Vater Becker meist an solchen Tagen mit der Familie in Busch und Berge gezogen. Doch wenn in diesen Tagen die Jungen das leise Bumbum einer Pauke hörten, rannten sie los; immer dem Ton nach, was die barfüßigen Beine hergeben wollten. Je näher sie der Musik kamen, desto dichter wurde das Menschengewühl am Straßenrand. Und wenn sie den Zug der Marschierenden erreicht hatten, liefen sie begeistert neben der Militärkapelle her. Die Freiwilligen hinter der Musik lachten, riefen und sangen. Sie hatten keine Angst vor Not und Tod, sie hatten sogar Humor, manche hatten auf ihren Pappkarton gemalt: "Jeder Stoß ein Franzos" - "Jeder Tritt ein Brit" - "Jeder Schuss ein Russ". Manchmal trat ein junges Mädchen aus der jubelnden Menge am Straßenrand auf einen Freiwilligen zu, heftete ihm ein Sträußchen an die Jacke und küsste ihn. In solchen Augenblicken war Artur überzeugt, dass Lehrer Neblich mit seiner großen Zeit recht habe. Auch alte Mütterchen taten Gutes, sie hatten Zigaretten und Zigarren gekauft und verteilten sie an die Helden. Die Menschen ringsum waren freundlich, umarmten sich, und es herrschte eine rechte Verbrüderung. Hätte Artur gestern nicht ein massiger Schlächtermeister mit befleckter Schürze, der vor Begeisterung aus seinem Laden rannte, den nackten Zeh blutig getreten, er hätte glauben können, er träume. Seitdem hinkte er ein wenig, die leiseste Ungeschicklichkeit fuhr ihm als spitzer Schmerz ins Gehirn und erinnerte an die Wirklichkeit. Dann sah er die bezaubernde Gestalt, vergaß den Schmerz und löste sich aus dem Trupp der mitziehenden Kinder, Halbwüchsigen und Bürger, um sie ganz von Nahem zu sehen. Der geküsste Freiwillige hatte sich wieder eingereiht, sah sich um und winkte. Sie winkte lächelnd zurück. Den Kopf mit dem ährenblonden Haar trug sie stolz wie Kriemhild, sie hatte blaue Augen, rosa Wangen und rote Lippen. Nun trat sie zurück auf den Bürgersteig zu einer Gruppe feingekleideter Damen. Die trugen teure Hüte mit künstlichen Kirschen darauf. Sie hielten sich sehr gerade, was erleichtert wurde durch die hohen Stäbchenkragen, von denen kostbare Jabots auf ihre Büsten fielen. Die Jabots waren festgesteckt mit Broschen, Abzeichen irgendeines vaterländischen Frauenvereins. Die große Vollbusige schien die Mutter der Kriemhild zu sein. Sie trug ein Körbchen, darin lagen die Sträußchen und Zigarettenschachteln. Die Damen unterhielten sich meist flüsternd, aber wenn man sich recht dicht neben sie stellte, konnte man einiges verstehen. Immer wenn die Begeisterung um sie herum etwas nachließ, nickten sie sich zu und begannen zu rufen, zu winken, Kusshände zu werfen und Zigaretten aus ihren großen Handtaschen. Am interessantesten war es neben der Imposanten und ihrer Tochter. "Dort, Elvira", flüsterte die Mutter, "der Käsegesichtige schaut so trüb drein." Rasch gab sie der Kriemhild Schachtel und Strauß aus dem Korb, und die trat strahlend auf den Käsegesichtigen zu, der einen Augenblick ungläubig im Schritt verhielt und dann errötete vor solcher Auszeichnung.
Die letzte Viererreihe war vorüber, eine Menge Begeisterter nach sich ziehend. Die Kriemhild schaute auf den Rest Schachteln und Sträußchen im Körbchen und sagte mit einer Stimme, die gar nicht wie Glockenläuten klang: "Schade, nicht schnell genug verteilt - die welken nun."
"A la bonne heure", lobte die Imposante, "hast tapfer geküsst."
"Komm schnell", einen Augenblick vergaß sich die Heldenmacherin, und ihre Miene wurde kalt wie ihre Stimme, "ich muss mir den Mund spülen." Angewidert fuhr sie sich über die Lippen, der Ekel machte ihr schönes Gesicht hässlich.
"Beherrschung, meine Teure!" Die Imposante lachte gekünstelt. "Ohne Begeisterung kein Sieg." Mit übertriebenen Floskeln verabschiedeten sie sich von den andern Vaterlandsdamen und gingen rasch davon. Artur schaute ihnen nach und dachte: Pfui Deibel!
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