1 ...6 7 8 10 11 12 ...26 "Warum machen die 'n das?", erkundigte sich Kaspar.
"Weißt du doch selbst, wie die Schandeckels immer die Armen piesacken'', erläuterte Eugen.
"Na ja", räumte Kaspar ein, "wenn wir Koks von den Halden holen oder Kartoffeln stoppeln, das wollen die nicht. Aber so was mit 'm Brett, das machen hier unsre nicht, die schreiben bloß auf und schimpfen."
"Und die feinen Herren, wie Vaters Chef, die werden sich hüten, sich selber mit uns rumzuärgern", meinte Artur.
Das Wesen der Satire zu erklären, wäre von Eugen zu viel verlangt gewesen. Unsicher fuhr er sich mehrmals über die igeligen Haarstoppeln und dachte mit Unbehagen daran, dass Vaters Haarschneidemaschine bald wieder darin herumfuhrwerken würde. Endlich kam ihm eine Erleuchtung: "Woanders sind sie wohl schlimmer. Da steht ja auch: Durchs dunkelste Deutschland."
"Und warum steht da noch: Crimmitschau?" wollte Artur wissen.
Eugen zupfte sich am Ohrläppchen, das im Gegensatz zu seiner käsigen Gesichtsfarbe rosig schimmerte. "Weiß ich's? Ist wohl der Ort, wo sie das gemacht haben."
"Wir werden Vater fragen", entschied Artur.
Frau Becker kam von der Arbeit bei Schmands zurück. Kaspar erschrak und erkundigte sich nach der Zeit. Hastig riss er seine Mappe an sich und rief im Hinausrennen: "Schön 'n Dank. Wenn wir immer Jakobs ansehen, komme ich morgen wieder!"
Eugen rief ihm nach: "Aber vorher gehst du mittagessen!"
Als ihn Mutter und Bruder rügten, griente er. "Anderen müssen wir Nachhilfeunterricht bezahlen, aber wir sollen ihn obendrein ernähren."
Nepomuk erteilt Lehren
Artur marschierte vornweg und schwang eine Gerte als Taktstock. Eugen sang zweite Stimme, Vater mal dritte, mal Brummbass. "Das Wandern ist des Müllers Lust" war im Schulchor eingeübt worden. Auf dem vorigen Ausflug hatten sie vom Vater gelernt: "Es blies ein Jäger wohl in sein Horn". Das war schon wieder vier Wochen her. Meist mussten sie sich sonntags mit einem Nachmittagsspaziergang begnügen, gemeinsam mit Mutter und Hedwig. Heute waren die drei "Männer" im Morgengrauen mit der Bahn ein Stück ins Bergische Land gefahren, um über Stock und Stein nach Remscheid zurückzuwandern.
Das Lied war zu Ende und übermütig kommandierte Artur: "Bin ein fahrender Gesell". Bereitwillig fielen Vater und Eugen ein. Hinter einer Wegbiegung, ziemlich weit vorn, tauchte ein Mann auf. Er lief barfuß, hatte die Schuhe über der Schulter hängen. An einer kleinen Brücke verschwand der Mann. Nach der letzten Strophe begannen sie kein neues Lied, sondern schauten neugierig, wo der Mann geblieben sein mochte. Sie entdeckten ihn am flachen Ufer des Fließes, wo er sorgfältig Toilette machte. In der Hand einen Taschenspiegel, zog er sich mit einem winzigen Kamm einen wasserglänzenden Poposcheitel. Ohne sich in seinen Hantierungen stören zu lassen, sprach er die Drei an: "Grüß Gott, Wandersleut, habt so schön gesungen, dass mein Magen im Takt mitgeknurrt hat. Dafür sollte man ihn belohnen."
Vater Becker übergab den Jungen mit entsprechender Gebärde den Rucksack und lehnte sich schmunzelnd auf das birkene Brückengeländer. "Kunde kenn?"
Der mit dem Walzbrudergruß Angesprochene hob abwehrend die Hand und bearbeitete weiter seinen Hosensaum mit einer Taschenbürste. "Bis hier und vor euch, Bruder; denn wer da singend zieht, ist nicht zu fürchten; nur die Gewalt kommt auf Sammetpfötchen." Er wies mit der Bürste zum Dorf. "Wer als Lamm zu den Wölfen geht, putze sich zum Wolf, besonders des Sonntags."
Die Jungen hatten eine derbe Klappschnitte ausgewickelt.
"Bring's ohne Furcht, kleiner Bruder", ermunterte der Tippelkunde Artur.
Ein wenig scheu, ein wenig ehrfürchtig gab Artur ihm die Schnitte. Als der Mann mit dem schwarzen Jesusbart und dem Madonnenscheitel gierig vom Brot abbiss und es hinunterschlang, verlor sich einiges von seinem unsichtbaren Heiligenschein.
"Dank, ihr reinen Herzen", sprach er während des Kauens, "und falls ihr noch eines Menschendienstes fähig seid, so geht voraus ins Dorf. Gebt mir ein Zeichen, wenn ihr einen Greifer erblickt."
"Einen Schandarm?", fragte Artur eifrig.
"Ganz recht, kleiner Bruder, wegen meines Blaukollers. Knechte in Uniform muss man totschlagen. So ihr mir aber helft, werde ich nicht zum Mörder." Der Landstreicher zog Socken aus seiner Hosentasche, streifte sie über die Füße und fuhr in die Schuhe. "Wer Schusters Rappen schont, reitet sie länger", dozierte er beim Zuschnüren.
"Willst das Dorf abklopfen?", erkundigte sich Walter Becker.
"Nicht ich", der Kunde wies auf seinen Magen, "aber der zwingt mich. Der gute Kaiser meint zwar, wer kein Brot hat, solle Kuchen essen, jedoch regnet's zu selten Kuchen."
Walter Becker lachte, und Eugen sagte: "Das haben wir auch schon bedauert."
Der Kunde holte ein "Schmiesken", ein Einknöpfchemisette, aus der Brusttasche und hing es vermittels eines Gummibands vor die haarige Brust. Dann neigte er leicht den Kopf zu den drei Beckers hin und stellte sich vor: "Nepomuk, jetzt wieder Vogel - Nepomuk Vogel." Er musterte sich im Taschenspiegel. "Arm, aber anständig, wie? Die Unanständigen atzen nur den, der da anständig aussieht." Während er die Verschönerungsutensilien verstaute, schlug er vor: "Wenn es recht ist, Brüder, geht nun, und im Blaufall schickt euer Herzblatt zurück. An mich halten will ich dann schon selbst."
Lachend wanderten die Drei los. Nach einer Weile schüttelte Walter Becker den Kopf. "Das ist 'n Kauz."
"Er ist - ist er jeck?", fragte Artur.
"Der? Das ist 'n Fuchs", sagte der Vater.
"Hast du alles' verstanden, was er gemeint hat?" wollte Artur wissen.
"Mit seinen Narrheiten macht er sich gefällig. Schade um solch Köpfchen."
"Ob er schon so lange unterwegs ist wie du damals auf Wanderschaft?", fragte Eugen.
"Er sieht mir ganz nach dem ewigen Tippelbruder aus. Zu oft hat man ihm keine Arbeit gegeben, und nun mag er nicht mehr."
Artur schaute sich um und sah, dass Nepomuk in einiger Entfernung folgte. "Dann sagen wir ihm Bescheid, wenn ..."?
"Wenn ein Blauer auftauchen sollte, selbstverständlich."
Das Dorf lag in sonntäglicher Stille. Links der Dorfstraße wurden die Gehöfte von einem Hang begrenzt, rechts von jenem Fließ. Vom Dorfausgang sahen die Beckers, dass Nepomuk eben das erste Gehöft betrat. Ziemlich schnell erschien er wieder und verschwand auf dem Bauernhof gegenüber. Auch dort war seines Bleibens nicht lange, seine Gesten drückten Missfallen aus, doch unbeirrt schlüpfte er auf den nächsten Hof. Dort dauerte es etwas länger, an der nächsten Hoftür rüttelte er vergeblich und wandte sich der folgenden zu.
Artur schüttelte sich. "Könnte ich nicht - so von Tür zu Tür betteln."
"Ein empfindsames Herz musst du auf Walze zu Hause lassen", sagte der Vater, "sonst verhungerst du."
"Die Organisierten werden doch von ihrer Gewerkschaft unterstützt", bemerkte Eugen altklug.
Der Vater korrigierte ihn. "Wenn was in der Kasse ist, aber das ist selten der Fall. Am besten werden die Buchdrucker auf der Wanderschaft unterstützt. Ihr Verband zahlt feste Sätze."
"Die Buchdrucker können viel lesen", schwärmte Artur, "sie brauchen sich die Bücher nicht zu kaufen." Der Vater lächelte über die vereinfachende Art des Neunjährigen. "Mehr als unsereins kriegen sie schon zu lesen. Darauf tun sich die Meisten auch was zugute. Elite der Arbeiterschaft nennen sie sich gern. Weil manche von ihnen die Nase so hoch tragen, mit Schlips und Kragen arbeiten, nennen wir sie Stehkragenproleten."
Eugen spottete: "Jetzt hat's der Chemisettprolet bald geschafft."
Nepomuk näherte sich den letzten Häusern, und sie meinten, nun könnten sie ein Stück voraus auf ihn warten.
Am Teich, rechts des Weges, zupften Gänse Ufergras, das samten war wie kurz geschorener Rasen. Mutterenten ruderten vor ihrer Flottille junger Entlein her, Enteriche gründelten, friedsames Quaken war in der Luft. Über dem Wiesenhang links stand ein Tannendickicht, ein Quell sprudelte dort. Hier machten sie Rast und ließen den Blick über Fließ, Dorf und Teich schweifen. Genüsslich aufseufzend warf Walter Becker den Rucksack ab und streckte sich ins Gras des Gehölzrands. Die Jungen nahmen bemooste Steine zum Sitz. Artur erzählte dem Vater, wie der schöne Plan beinahe ins Wasser gefallen wäre, wenn Eugen nicht geholfen hätte. Kaspar habe nach dem ersten Lob Mut gefasst und komme jeden Tag, die andern drei, vier ab und zu. Leider habe sich der dicke Alois bis jetzt noch nicht sehen lassen. Fräulein Marein habe ihn, Artur, gelobt und gefragt, ob er später einmal Lehrer werden wolle.
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