Bitte, gib nicht auf.
Denise Docekal
Prolog
2 Jahre zuvor
Markus grinste mich von der Seite an. Wir saßen gerade in unserer ersten Vorlesung an der Uni und er wusste genau, wie nervös ich war. Und wie glücklich.
Seit einer gefühlten Ewigkeit freute ich mich schon darauf, mich endlich Studentin nennen zu dürfen.
Unsere Eltern hatten uns immer erzählt, wie wunderbar die Zeit an der Universität gewesen war und, dass wir diese Zeit genießen sollten. Aber natürlich auch, dass wir viel lernen und uns benehmen sollten. Von anderen Seiten hatte ich von dieser unglaublichen Freiheit gehört, die sie als Studenten empfunden hatten.
Ich fühlte mich gerade frei.
Markus – mein Zwillingsbruder – und ich waren in unser erstes Apartment gezogen. Wir hatten es so eingerichtet, wie wir es immer schon haben wollten. Wir hatten uns unsere Studentenausweise geholt, auf denen wir beide wie Idioten aussahen. Und wir fühlten uns unglaublich frei.
„Na, wie geht’s deinem Bauch?“, fragte mich mein Bruder und lehnte sich zurück. Um uns herum saßen einige Mädels, die ihn schon die ganze Zeit über mit einem verträumten Lächeln ansahen. Oh ja, Markus sah gut aus. Das konnte ich als seine Schwester ruhig zugeben. Seine braunen Haare fielen ihm leicht ins Gesicht und er war gut gebaut.
Wenn man uns zusammen sah, würde man kaum davon ausgehen, dass wir Zwillinge wären. Bis auf unsere Augenfarbe und die Form unserer Nasen, hatten wir nicht viel gemeinsam. Im Gegensatz zu ihm war ich blond – zugegebenermaßen gefärbt – und eher kurvig gebaut. Das hatte ich eindeutig von meiner Mutter geerbt, wohingegen Markus unserem Vater wie auf’s Auge glich.
„Er zittert.“, gab ich zu.
Mein Bruder war sehr viel gelassener, als ich. Er freute sich auch riesig darüber endlich studieren zu können, aber seine Freude war nicht von Nervosität überdeckt, wie es bei mir der Fall war.
„Du wirst angestarrt.“, flüsterte ich meinem Bruder grinsend zu und er blickte hinter sich.
Der Großteil der Mädels sah sofort in ihre Laptops oder Blöcke und tat so, als ob sie irgendwas total Wichtiges notieren müssten. Nur ein paar vereinzelte blickten ihn weiterhin an und schickten ihm ein laszives Lächeln.
Markus drehte sich wieder um und verdrehte theatralisch die Augen: „Ich sag’s dir, wenn ich mich nur für sie interessieren könnte, dann ...“, er grinste gespielt böse.
„Soll ich ihnen sagen, dass du auf Kerle stehst?“, fragte ich lachend und war schon dabei mich umzudrehen, aber Markus legte eine Hand auf meinen Hinterkopf und drehte ihn wieder nach vorn.
Gleichzeitig hörte ich Markus’ Lachen.
Es war schön, ihn Lachen zu hören. Zu hart waren die Zeiten zu Hause gewesen. Besonders, seitdem Markus sich im letzten Sommer auch meinen Eltern gegenüber geoutet hatte.
„Okay, okay.“
Links von mir ließ sich ein weiterer Student nieder. Ich blickte kurz hin, um mich vorzustellen. Ich wollte hier so schnell wie möglich Kontakte schließen, um mich mit verschiedenen Leuten anzufreunden. Ich brauchte ganz dringend neue Sozialkontakte.
Meine Stimme blieb mir aber im Hals stecken. Der Typ neben mir war ... ich konnte es gar nicht beschreiben. Er war groß, muskulös und hatte das Gesicht eines Adonis. Sein gutes Aussehen wurde auch von den Mädels bestätigt, die bisher meinen Bruder umschwärmt hatten. Einige von ihnen waren nun zu dem Leckerbissen links von mir gewandert.
Auch er starrte mich an und zog die Augenbrauen hoch: „Hast du gerade einen Schlaganfall oder bist du einfach nur von meinem guten Aussehen beeindruckt?“
Und damit war es auch schon wieder vorbei. Gutes Aussehen hin oder her, er war eindeutig ein arroganter Mistkerl.
„Ich wollte mich nur vorstellen. Ich bin Mary.“, ich lächelte gezwungen: „Und das ist mein Bruder Markus.“
Der Typ sah kurz an mir vorbei zu meinem Bruder, bevor sein Blick wieder zu mir glitt: „Okay.“
„Und du bist?“
„Nicht an dir interessiert, Mäuschen.“, sein Blick glitt nochmal an mir auf und ab: „Obwohl ...“
Oh Gott.
Ich räusperte mich und setzte mich wieder gerade hin, sodass ich nach vorne sehen konnte.
„Na, jetzt doch schüchtern?“, fragte mich mein Sitznachbar.
„Nein, nur genervt.“, brummte ich und öffnete meinen Notizblock. Jetzt war ich eine von denen, die irgendwas „total Wichtiges“ notieren musste.
„Ich heiße Adam.“
„Okay.“
„Hey, du hast mich als Erstes angebaggert.“, aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er sich entspannt zurücklehnte und die Arme hinter dem Nacken verschränkte.
„Ich habe dich überhaupt nicht angebaggert.“, rief ich – zugegebenermaßen etwas zu laut.
„Mary.“, flüsterte mein Bruder von meiner rechten Seite: „Lass dich von dem Idioten nicht nerven.“
Lachend warf Adam seinen Kopf nach hinten. Ich erkannte, dass er seine dunklen Haare, die ihm bis in den Nacken reichten, zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Mit dem leichten Bart erinnerte er mich fast an einen Wikinger.
„Ja, Mary, lass dich von mir nicht nerven. Lass dich lieber von mir verwöhnen.“, den letzten Teil flüsterte er in mein Ohr.
Ich spürte richtig, wie mein Gesicht rot wie eine Tomate wurde. Oh Gott, sowas konnte er doch nicht zu einer Fremden sagen!
Als Adam sich wieder etwas zurücklehnte, war sein Grinsen noch breiter: „Wirst du eigentlich überall so rot, wenn du verlegen bist?“
„Pass auf, was du zu mir sagst. Sonst werden bei dir auch gleich einige Körperteile roter sein, als zuvor.“, gab ich schnippisch zurück.
„Oh, ist das ein Angebot?“, er zog wieder seine Augenbrauen hoch. Der Schalk saß ihm eindeutig in den Augen.
„Das ist eine Drohung.“, diesen Idioten würde ich bestimmt nicht mehr anreden. Der hatte sie doch nicht mehr alle.
„Oh Mary, wir würden so viel Spaß gemeinsam haben.“, mit dieser Aussage merkte ich, wie neckisch sein Grinsen eigentlich war. Er nahm mich die ganze Zeit über auf den Arm.
Genervt wandte ich mich nun endgültig von ihm ab. Von diesem Idioten würde ich mir nicht meinen ersten Tag an der Uni verderben lassen.
Ich war glücklich.
Ich liebte es hier.
Es fühlte sich gerade so an, als ob mir nichts jemals wieder meine Stimmung verderben konnte.
Teil 1
Eins
Heute
Ich war alles andere als glücklich.
Ich hasste es hier.
Es fühlte sich gerade so an, als ob nichts jemals wieder meine Stimmung aufheitern könnte.
Seit sechs Monaten lief ich herum wie ein Zombie. Seit sechs Monaten hatte ich das Gefühl, dass die Sonne nie wieder aufgehen würde.
Vor sechs Monaten hatte ich meinen besten Freund verloren.
Vor sechs Monaten hatte ich meine zweite Hälfte verloren.
Seitdem wandelte ich nur noch als eine Art Schatten herum.
Eben wie ein Zombie.
Gerade saß ich mit meinen Eltern und dem dorfeigenen Pfarrer an einem Tisch. Alle drei starrten mich an, während ich meinen Blick nicht heben konnte. Ich wusste genau, was sie mir sagen wollten. Was sie von mir wollten.
„Mary.“, fing der Pfarrer an: „Wir machen uns wirklich Sorgen um dich.“
Am liebsten würde ich die Augen verdrehen, aber ich riss mich zusammen. Ich wusste, was meine Eltern von unserem Pfarrer hielten und ich wollte sie nicht schlecht vor ihm dastehen lassen.
„Wir denken, dass du wieder an die Uni gehen solltest.“, platzte meine Mutter heraus. Obwohl ich damit gerechnet hatte, war es doch nochmal was anderes, es aus ihrem Mund zu hören. Ich sollte wieder zurück? An den Ort, an dem ich mit Markus am glücklichsten gewesen war?
„Wir wollen nur dein Bestes.“, sprach nun mein Vater weiter. Ein großer, aber eher schmal gebauter Mann mit lichtem Haar. Ein typischer Vater eben: „Und wir wollen dir helfen, dass du dich wieder besser fühlst.“
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