Ich packe das Handy weg, nehme die Kiste und gehe. Ich muss aufpassen, dass das Pendeln der Kiste nicht dazu führt, dass mich der Kaktus ins Gesicht sticht. So bemerke ich nicht, dass ich das erste Hotel verpasse, in dem ich mir ein Zimmer hätte nehmen können. Genauso tapse ich an einer seltenen Telefonzelle vorbei, von wo aus ich Kai hätte anrufen können. Er hätte nicht gesehen, dass ich es bin, wäre rangegangen, hätte sich nicht drücken können, und ich hätte ihn fragen können, was der Scheiß soll. Aber mit dem Blick zu Kai Kaktus ziehen die Chancen an mir vorbei, während ich durch Köln-Lindenthal wanke. Bevor ich mir ein Hotelzimmer nehme, will ich erst eine Gefälligkeit einlösen. Katrin habe ich damals im Malkurs einen Pinsel geliehen, den sie mir nicht zurückgegeben hat. Ich verzichte auf meinen Anspruch und frage nach einem Unterschlupf für die Nacht. Ein fairer Deal.
Es klingelt.
Einmal, zweimal, dreimal.
Dann höre ich eine samtig weiche Stimme am anderen Ende.
»Hallo?«, eröffnet die Stimme eines Engels.
»Ähm, hallo«, stammele ich, als hätte ich mich verwählt, oder wäre ein liebestrunkener Teenager beim Telefonstreich mit dem nichtsahnenden Schwarm. Ich muss tief Luft holen.
»Hallo Katrin?« Wieso frage ich? Vielleicht hat sie ihr Handy weitergegeben oder die Nummer wurde schon neu vergeben? Ihre Stimme ist mir nicht so vertraut. Wir haben uns lang nicht mehr gehört. »Hier ist Mina«, schiebe ich schnell nach, damit sie der unsicheren Tussi einen Namen geben kann. Vielleicht kann sie sich sogar an mich erinnern.
Ich gebe ihr Zeit zu verarbeiten, bevor ich sie mit meiner Bitte in eine Zwangslage bringe. Der Kaktus zu meinen Füßen schaut mich komisch an. Könnte er, würde er mit dem Kopf schütteln. Er würde sagen, dass ich cool bleiben solle. Ich sitze in einer Bushaltestelle, geschützt vor dem Wind, der den Herbst ankündigt. Den Bussen winke ich zu, dass ich nicht einsteigen will. Die meisten verstehen den Wink und fahren dankbar weiter.
»Mina«, entgegnet Katrin langgezogen. Sie überlegt, wo sie mich hinstecken soll. Ich höre es. Sie schindet Zeit. Ich muss lächeln.
»Wie geht es dir?«
Sie gibt den Ball zurück, mit einer Standardfloskel, die in anderen Sprachen nicht einmal beantwortet wird. Ich bin wieder am Zug.
Meine Gedanken kreisen um das Wie und Wann und Warum und überhaupt. Ich möchte am liebsten alles erzählen, alle Theorien und Vermutungen, alle Höhen und Tiefen. Alles über Kai und dessen Pendant Kai Kaktus. Es soll nicht so klingen, wie es tatsächlich klingt – wie ein Hilferuf. Ich will es schön verpacken, sie nicht ausnutzen, nicht schnorren. Ich bin kein Parasit, aber eben auch keine gute Freundin. Ich bin nur eine Bekannte, die sich seit Ewigkeiten mal wieder meldet. Eine flüchtige Bekanntschaft, die den Stuhl, das Bett und den Teller fordert. Fordert? Erbittet? Erbettelt , wohl eher. Würde ich selbst einer derartigen Bitte nachkommen? Würde ich einer praktisch Unbekannten mein Heim anbieten? Nur weil die Unbekannte so blöd ist, sich von ihrem Freund vor die Tür setzen zu lassen?
Meine Zweifel werden unterbrochen von der Stimme des Engels: »Mina?«
»Ja«, antworte ich fix. Nicht, dass Katrin auflegt, weil sie denkt das Gespräch wäre unterbrochen. »Vom Malkurs an der Volkshochschule vor etwa vier Jahren. Hast du Zeit? Bist du zuhause? Kann ich vorbeikommen?«
Grandios, Mina! Eine Kanonade sondergleichen. Zusammen mit meiner Nervosität kann ich auch gleich sagen, dass ich Probleme habe und sie die Einzige ist, die mir gerade helfen kann. Mit der Tür ins Haus.
»Alles in Ordnung, Mina?«
Ihr Ton ist vorsichtiger geworden. Sie hat erkannt, dass ich Hilfe brauche. Bei Kai hätte ich dafür Sex, Steak und eine Schnulze, während der ich mich schluchzend an ihn schmiege, gebraucht. Und selbst dann hätte ich einzig seine Aufmerksamkeit, nicht sein Mitgefühl.
»Wollen wir uns auf einen Kaffee treffen?«, schiebt sie nach, das Gesprächsbedürfnis entlarvend.
Ehe ich sagen kann, dass ich es lieber etwas privater mag, ergänzt sie: »Oder willst du zu mir kommen?«
Wieso ist sie nicht in meiner Top Ten ? Oder ist es die Situation, die sie so einfühlsam macht? Hat sie sich vielleicht geändert? Hat sie Ähnliches erlebt?
»Das wäre toll«, höre ich mich sagen. Mein Ton ist wohl immer noch hilfsbedürftig. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich. Ich hasse solche Menschen, die sich nur melden, wenn sie etwas brauchen. Ich, Schmarotzer.
»Ich schicke dir die Adresse«, endet sie freundlich.
Aufgeregt wie ein Kind vorm eingepackten Geburtstagsgeschenk warte ich an der Bushaltestelle auf die Adresse. Soll ich etwas mitbringen? Ein Gastgeschenk? Blumen? Pralinen? Schnaps?
Ist sie allergisch? Ist sie auf Diät? Ist sie trocken?
Oh mein Gott!
Ich kenne diese Frau gar nicht und jetzt will ich sie mit meinem Leben überfrachten, sie überfallen und ihre Wohnung (oder ihr Haus oder ihre WG) besetzen.
Nachdem ich alle Geschenkideen verworfen habe, lege ich mir die Worte zurecht, die meine Lage kurz schildern, ohne zu viel Unnützes wiederzugeben.
Mit einem Taxi geht es quer durch die halbe Stadt, vom Westen in den Nordosten von Köln. Während der Fahrt gehe ich die anderen Auswege durch, aber weder Eltern-Almosen noch Samariter-Kai noch eine Nacht im Büro erscheinen mir erstrebenswert.
Abwesend zahle ich den Betrag, auch wenn es die letzten Bargeldreserven sind, steige aus und bestaune die ruhige Wohngegend, mit viel Platz und Grün zwischen den Häusern.
Ich suche die Klingel und werde schnell fündig. Neben kargen, vergilbten Klingelschildern mit den Aufschriften eines Steuerberaters und zwei anderer Familien leuchtet dem Besucher farbenfroh ein Schild in orange und lila mit einem kleinen, selbstgemalten Engelchen entgegen. Auf ihm steht „K. Engelmann“ . Sicherlich steht das K für Katrin . Die Adresse stimmt zumindest. Dem kleinen Engel drücke ich auf die Nase.
Es läutet oben im Dachgeschoss des dreistöckigen Hauses mit Tiefparterre. Ein Fenster im Dachgeschoss scheint gekippt zu sein, weshalb man das Läuten hört. Der Türöffner surrt. Anscheinend hat man mich erkannt.
»Ganz oben«, ruft jemand, als ich durch die Haustür trete.
Wenn das Katrin war, was sie ganz bestimmt war, hört sich ihre Stimme in echt noch samtiger an als am Telefon. Mein Puls beschleunigt sich. Ich stapfe die Treppenstufen mit meiner traurigen Kaktuskiste nach oben. Unter mir knarren die Holzdielen der Treppe.
»Komm rein«, winkt sie mir wohlgesonnen zu, an der Wohnungstür mit purpurnen Pantoffeln wartend.
Ich keuche, angesichts der Treppen und der Kiste mit meinen Habseligkeiten. Im Flur stelle ich die Utensilienbox ab. Katrin umarmt mich sofort. Ich kann nicht glauben, wie herzlich ich empfangen werde, denn eigentlich kennen wir uns kaum.
»Schön, dich zu sehen«, sagt sie strahlend, dann betrachtet sie meine Kiste samt Inhalt. »Wurdest du entlassen?«
Sie verknüpft sehr flott. Kaktus, Kaffeemaschine, Make-up und Badartikel. Dinge, die man auch im Büro lagert. Dabei weiß sie ja nicht einmal was ich beruflich mache. Sie versucht nur schnell zu verstehen, wie sie dazu kommt, spontan eine Fremde bei sich begrüßen zu dürfen.
Ihre helle Wohnung fällt mir sofort auf. Große Fenster, helle Wände, ein offener Schnitt, nur einzelne Stützbalken zum Dach hin. An den Balken hängen Bilder, wahrscheinlich von ihr gemalt. Bunte Farben, getupfte Landschaften, abstrakte Formen, verschwommene Gesichter. Fröhlich und beklemmend zugleich.
»Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht«, kläre ich sie zähneknirschend auf. »Und mich vor die Tür gesetzt«, nicke ich gefasst zur Kiste. Ich formuliere es emotionslos, da ich die Worte auf dem Herweg dutzendfach wiederholt habe, damit ich nicht in Tränen ausbreche.
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