Die Speisekarte enthielt eine kleine Auswahl, eher ein gutes Zeichen. Er bestellte sechs Austern zur Vorspeise, ein gratiniertes Kabeljaufilet mit frischen, kleinen gebackenen Tomaten und gebutterten Kartoffeln in Hummersauce. Zum Dessert wählte er ein Stück Apfelkuchen. Er gönnte sich eine halbe Flasche Muscadet-Sèvre-et-Maine von der Kellerei Bruno Cormerais.
Nach dem Essen unternahm er noch einen Spaziergang entlang der Strandpromenade von Concarneau. Sein Weg führte ihn an einem anderen Hotel, dem Hotel Ocean, vorbei. Er ging am Boulevard Katerine Wylie entlang, dann an alten Villen und Häusern, die aus der Vergangenheit noch einen exklusiven Zugang zum Meer besaßen, so dass heute keine Möglichkeit bestand, dort einen öffentlichen Fußweg zu errichten. Danach kam er wieder auf die Promenade zurück, die rund um die Meeresseite der Stadt angelegt war. Auf seinem Spazierweg hatte er über den aktuellen Auftrag nachgedacht.
Was steckte hinter dem Verschwinden des Mädchens? Eine Lösegeldforderung war nicht eingegangen. War es ein Sexualverbrechen mit anschließender Ermordung der jungen Frau? Der Verbrecher könnte die Leiche überall vergraben haben. Dan wollte zuerst die Spur nach dem Camper verfolgen. Falls sie ihn in eine Sackgasse führen sollte, würde er wohl Tom Sullivan den Auftrag zurückgeben müssen. Aber so weit war es noch nicht. Dan Cromwell hatte in seiner 23-jährigen Laufbahn erst einen Fall aufgeben müssen. Damals war es um die Suche eines Seemanns gegangen, der von seinen Eltern als vermisst gemeldet worden war. Der junge Mann war mit seinem Segelboot zu einem Segeltörn in die Irische See aufgebrochen und spurlos verschwunden. Die Nachforschungen hatten keinerlei Ergebnisse gebracht, so dass er die Suche nach drei Monaten schließlich aufgegeben hatte.
Dan Cromwell hatte jetzt die Ville Close erreicht. Eine mächtige Festung aus den Zeiten von Vauban. Dan liebte solche Bauwerke, die einen Blick zurück in vergangene Jahrhunderte ermöglichten. Er setzte sich auf eine Bank vor der Festung und genoss den Blick auf die Mauern, die Segelyachten, deren Masten sich im leichten Wind bewegten, und auf die Möwen, die über die Ville Close hinwegflogen. Ein Fischerboot kam vom Meer zurück und fuhr durch die Zufahrt zwischen der Altstadt und dem gegenüberliegenden Stadtteil zum Fischereihafen der Stadt. Über die Brücke mit dem mächtigen Anker, die die Ville Close mit der übrigen Stadt verband, schlenderten immer noch vereinzelte Besucher. Dan Cromwell stand von seiner Bank auf und kehrte zu seinem Hotel zurück. Am nächsten Morgen würde er sich auf die Suche nach Martin Tosser machen.
Dan erwachte früh, er hatte gestern Abend die Vorhänge nicht zugezogen. So schickte die aufgehende Sonne ihre Strahlen in sein Zimmer und versprach einen wundervollen Tag. Er duschte, zog sich an und ging in den Speisesaal. Dan liebte ein ausgiebiges Frühstück. Er freute sich auf Bratkartoffeln und kleine Würstchen oder Hackfleischbällchen. Danach gerne ein Rührei. Er würde sein üppiges Frühstück mit etwas Süßem abschließen. Leider musste er feststellen, dass auf dem Frühstücksbuffet des Hotels weder die Bratkartoffeln noch die Hackfleischbällchen im Angebot waren. Er nahm etwas Rührei und Baguette. Der Kaffee war gut. Dan trank drei Tassen. Danach las er die ausliegende Zeitung, den Ouest-France, und fuhr dann nach Fouesnant.
Sein erster Weg führte ihn zur angegebenen Adresse. Es war die Adresse, die er sich bereits auf dem Campingplatz in Spanien notiert hatte, ein kleiner Ortsteil beim Zentrum von Fouesnant. Sein Erstaunen war groß als er feststellte, dass unter der Adresse Bréhoulou niemand mit dem Namen Tosser zu finden war. Dan suchte Haus für Haus ab und las die Namensschilder. Auf den teilweise großen Grundstücken standen hin und wieder auch Wohnmobile, die seine Aufmerksamkeit erregten. Aber keines der abgestellten Wohnmobile war ein Hymer.
Dan hatte jetzt schon über zwei Stunden erfolglos nach dem Wohnwagen und einem Monsieur Tosser gesucht. Er ging daraufhin zur Gendarmerie der Stadt und bat dort um Hilfe. Er war nicht sehr überrascht, dass er auf Ablehnung stieß. Der Datenschutz war auch in Frankreich ein hohes Gut.
Dan Cromwell stieg in seinen Rover, nahm sein iPad zur Hand und gab den Namen Tosser in die Suchmaske seines Browsers ein. Er fand eine Anzahl von Personen mit dem Namen, aber keiner wohnte in der näheren Umgebung von Fouesnant. So schnell würde er sich nicht geschlagen geben. Er griff zu seinem Handy und wählte die Nummer von Hank Conners, einem Freund, der sich besser mit der Suche im Internet auskannte.
„Hallo mein Freund“, begrüßte Hank ihn. „Du brauchst wieder Unterstützung, liege ich richtig?“, fragte er, ohne sein Anliegen abzuwarten.
„Hallo Hank, du liegst absolut richtig. Ich komme nicht weiter. Ich halte mich in Frankreich auf und die Gendarmen weigern sich, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich bin auf der Suche nach einem Martin Tosser. Kannst du mir helfen?“
„Hast du etwas mehr Informationen? Der Name allein ist zu wenig, um den richtigen Mann herauszufiltern.“
„Ich kann dir sagen wo er wohnt und dass er ein Mobilehome besitzt, einen Hymer. Das Kennzeichen habe ich auch, aber das könnte natürlich auch gefälscht sein.“ Dan gab ihm das Kennzeichen durch, das er vom Platzwart des Campingplatzes erhalten hatte.
„Ich melde mich, sobald ich dir etwas sagen kann“, versprach Hank und legte auf.
Dan Cromwell überlegte sein weiteres Vorgehen. Er würde nach einem Händler für Wohnmobile in der Umgebung suchen. Vielleicht käme er einen Schritt weiter, wenn er sich die Kundendaten der Personen beschaffen könnte, die einen solchen Hymer gekauft hatten. Er fand einige Händler zwischen Brest und Lorient, notierte sich die Adressen und setzte sich erneut in seinen Rover.
Swana Roué traf in der Allée de Penfoulic in Fouesnant ein, stellte ihren Renault Clio unter den Carport, griff nach ihrem Rucksack und ging zur Haustür. Auf den blauen Peugeot 206, der vor der Einfahrt zu ihrem Grundstück stand, achtete sie nicht. Sie schloss die Haustür auf und trat ins Haus. Seitdem vor einigen Jahren bei ihr eingebrochen worden war, achtete sie sorgfältigst darauf, die Tür gut zu verschließen und den Riegel vorzuschieben.
Sie stieg die Treppe zur ersten Etage hoch und ging in ihr Arbeitszimmer. Ihr Computer, Drucker und diverse Speichermedien standen in dem Raum. Hier bearbeitete sie ihre Vogelbilder und schrieb ihre Blogbeiträge, die sie regelmäßig veröffentlichte. Swana Roué hatte in den letzten Jahren eine Fangemeinde aufgebaut, die regelmäßig ihre bebilderten Beiträge zur Vogelwelt des Schutzgebiets an der Pointe de Trévignon lasen und mit Kommentaren, Ergänzungen, Anmerkungen und weiteren Auskünften zu den Vögeln versahen.
Swana machte sich daran, die Bilder von ihrem Fotoapparat auf den Computer zu übertragen. Eine automatische Synchronisierungssoftware übertrug die Bilder sofort auf eine zweite Harddisk, die sie an das Gerät angeschlossen hatte. Nachdem ihr Computer vor fünf Jahren einen Headcrash erlitten hatte, und alle Bilder der letzten sieben Jahre verloren waren, hatte sie sich geschworen, dass das nicht noch einmal passieren würde. Seitdem speicherte sie Kopien auf mehreren externen Festplatten. Die Speichermedien waren mittlerweile so günstig, dass sie sich diese vermeintliche Sicherheit leistete.
Swana sah die Bilder an, die sie aufgenommen hatte, nachdem der Schuss gefallen war. Sie vergrößerte das erste Bild und suchte den Ausschnitt, der die Gestalt im Gras zeigte. Das Gesicht war nicht zu sehen. Swana schob den Ausschnitt weiter nach rechts, wo sie den Mann stehen gesehen hatte. Eine vermummte Person kam zum Vorschein. Sie war nur schlecht zu erkennen, eine Gesichtshälfte lag im Schatten und die Kapuze verbarg die andere. Die Kapuze gehörte zu einem langen schwarzen, weit geschnittenen Mantel, der mit Schlaufen geschlossen wurde, wie bei einem Dufflecoat. In der Hand konnte sie eine Pistole oder einen Revolver erkennen.
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