Dustin war immer noch mit der Sicherung aller Spuren rund um die Fundstelle beschäftigt als sie bei ihm ankamen.
„Der Schlüssel zum Fahrzeug von Mister Cromwell“, sagte Anaïk und gab Dustin die Plastiktüte.
„Hat der Tote bereits einen Namen?“ Dustin sah Anaïk erstaunt an.
„Ja, im Handschuhfach lag ein Ausweis. Der Mann ist Privatdetektiv aus London. Vielleicht hat er hier jemanden gesucht oder observiert. Sieh dir das Fahrzeug bitte genauer an.“
„Wenn du mir noch den Standort des Fahrzeugs verrätst, dann mache ich es sobald wir hier fertig sind. Der Tote hatte eine Pistole in der Tasche. Wir haben inzwischen mehrere Schuhabdrücke gefunden und eine Patronenhülse, 9 mm. So wie es aussieht, ist der Mann hier erschossen worden. Der Fundort ist also auch der Tatort“, sagte Dustin.
„Der Wagen steht auf dem Parkplatz an der Route de Kerouini Dustin“, antwortete Monique und wandte sich dann Anaïk zu.
„Bevor wir zurück ins Kommissariat fahren, können wir doch noch mit den Bewohnern der Häuser dort oben sprechen.“ Monique zeigte auf die Häuser, an denen sie ihren Wagen abgestellt hatten.
„Wenn der Mann hier erschossen worden ist, dann müsste doch jemand etwas gehört haben“, ergänzte sie und sah Anaïk an.
„Machen wir, bevor sich die Erinnerung der Bewohner eintrübt.“
Sie gingen über die Wiese zurück und begannen mit der Befragung der Bewohner.
Das erste Haus war verschlossen und aktuell unbewohnt. Auch das Nachbarhaus schien ein Ferienhaus, ein Zweitwohnsitz, zu sein, die Fensterläden waren geschlossen und das Gras war schon seit Längerem nicht gemäht worden. Die Kommissarinnen gingen auf dem unbefestigten Weg weiter. Das einzige Haus, das Sie jetzt noch aufsuchen konnten, war ein größeres Anwesen mit einem Swimming-Pool und einer enormen Wasserrutsche. Es schien zum Campingplatz zu gehören, die Rutsche war wohl für die Kinder der Campingplatzbesucher gedacht. Sie klingelten an der Haustür. Eine gut gekleidete Dame öffnete und sah die beiden Frauen verwundert an.
„Bonjour Mesdames, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie erstaunt.
„Entschuldigen Sie die Störung, Madame, mein Name ist Anaïk Pellen-Bruel und das ist meine Kollegin, Monique Dupont. Wir sind von der police judiciaire aus Quimper.“
„Police judiciaire? Ist bei uns etwas passiert?“
„Haben Sie heute früh etwas Außergewöhnliches beobachtet oder einen Schuss oder Knall gehört? Wir haben eine Leiche am Loc´h Coziou gefunden.“
„Nein, ich habe nichts mitbekommen. Wer wurde denn getötet?“, fragte sie.
„Darüber können wir noch nicht sprechen. Sie haben wirklich nichts gehört? Ihnen ist auch kein Fahrzeug aufgefallen?“, fragte Anaïk nach.
„Nein, ich habe mich im Wohnzimmer aufgehalten und das geht nach Westen. Da bekomme ich nicht mit, was sich am See oder auf dem schmalen Weg abspielt.“
„Haben Sie vielen Dank“, sagte Anaïk und verabschiedete sich.
„Schon seltsam, dass man in einem Haus, das keine 400 Meter entfernt liegt, nichts hört. Einen Schuss hört man doch.“
„Nun, es kann schon sein, dass Sie nichts gehört hat. Zwischen ihrem Haus und dem See liegen zwei Gebäude, die quer zum See stehen. Die reduzieren vielleicht den Schall“, meinte Monique.
„Lass uns zurück ins Kommissariat fahren, hier können wir nichts mehr machen. Wir sollten versuchen, etwas über den Toten herauszufinden“, entgegnete Anaïk und ging zum Fahrzeug.
Tom Sullivan lief zwischen Fenster und Wohnungstür hin und her. Er wartete auf den Briefträger, der in den letzten zehn Tagen zwar immer an seinem Haus vorbeigegangen war, aber nichts in den Briefkasten gelegt hatte. Er wartete auf eine Ansichtskarte seiner Tochter. Seine Tochter war vor zwei Wochen nach Spanien gefahren, sie wollte dort auf einem Campingplatz ihren Urlaub verbringen. Sie hatte ihn angerufen als sie ihr Ziel auf dem Campingplatz Valdoviño erreicht hatte. Sie schwärmte von der tollen Landschaft und den großartigen Stränden rund um Ferrol und hatte ihm versprochen, eine Ansichtskarte zu schicken.
Auf diese Karte wartete er. Kate hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet. Am Ende der ersten Woche hatte er versucht, sie zu erreichen. Erfolglos, obwohl Kate ihr Handy nie ausschaltete. Vor zwei Tagen war er dann zur nächsten Polizeidienststelle gegangen, in Colchester, und hatte die Polizisten gebeten, ihm zu helfen. Die Polizisten hatten versucht, ihn zu beruhigen. Bestimmt hätte sie ihr Handy nur ausgeschaltet oder ihr Urlaub sei so toll, dass sie schlichtweg vergessen hatte anzurufen oder das Handy sei kaputtgegangen.
Tom Sullivan hatte sich damit aber nicht zufriedengegeben. Die Polizisten ließen sich schließlich dazu überreden, mit den Kollegen in Ferrol in Kontakt zu treten. Nach einem Tag traf die Antwort aus Ferrol ein und traf Tom Sullivan wie ein Blitzschlag. Das Zelt von Kate stand noch auf dem Campingplatz, es war aber leer. Der Besitzer des Platzes hatte bereits eine Strafanzeige gestellt, da das Mädchen den Platz anscheinend vor acht Tagen verlassen und die Rechnung nicht beglichen hatte.
Bis nach Spanien war sie mit einer Mitfahrgelegenheit gereist, ein junger Mann aus der Nachbarschaft hatte sie mitgenommen. Die Rückreise wollte sie mit Bahn und Bus zurücklegen, von Ferrol aus mit der Bahn bis nach Oviedo und von Oviedo über San Sebastian nach Saint Jean de Luz mit dem TGV, von dort nach Bordeaux und anschließend mit Ouibus nach Brest. Das letzte Stück bis nach England würde sie von Roscoff mit der Fähre zurücklegen. In Plymouth würde ihr Vater sie dann abholen und sie würden drei gemeinsame Tage in London verbringen.
Eben weil sie diese gemeinsamen Tage in London verabredet hatten, war er beunruhigt als kein weiteres Lebenszeichen von seiner Tochter eintraf. Die spanische Polizei fahndete nun nach dem Mädchen. Suchaktionen rund um den Campingplatz wurden durchgeführt, Zeugen, die das Mädchen gesehen hatten wurden befragt, ihr Bild in den regionalen Zeitungen veröffentlicht und schließlich wurde sie auch mit Hilfe des Fernsehens gesucht. Nichts führte zu einem Ergebnis. Das Mädchen blieb verschollen. Ein Verbrechen konnte nicht mehr ausgeschlossen werden.
Tom Sullivan war verzweifelt. Er war seit einigen Jahren Witwer und lebte alleine. Er zählte zur Oberschicht der Stadt. Seine Tochter war Schülerin im College und wohnte noch bei ihm. Als nach weiteren vier Wochen immer noch kein Lebenszeichen von ihr aufgetaucht war, die Polizei in Spanien auch nichts Neues sagen konnte, entschied er sich, einen zusätzlichen Weg einzuschlagen. Er suchte den Privatdetektiv Dan Cromwell in London auf, der sich bei verschiedenen ähnlich gelagerten Fällen einen guten Namen gemacht hatte, und bat ihn, die Suche nach seiner Tochter aufzunehmen. Die Kosten spielten keine Rolle. Dan Cromwell sagte zu, ließ sich über alle bekannten Einzelheiten unterrichten und machte sich auf den Weg nach Spanien.
Dan Cromwell war ein Hüne. Mit seinen 1,94 Metern überragte er die meisten Menschen. Seine Kleidung entsprach der eines Engländers der Upperclass, die Anzüge waren maßgeschneidert und die Schuhe auf Maß angefertigt. Er fuhr einen Rover 75. Er hatte ihn gekauft, bevor die Produktion dieser Baureihe eingestellt worden war. Er liebte das Fahrzeug und es hatte ihn in all den Jahren noch nie im Stich gelassen.
Dan Cromwell hatte entschieden, die Reise nach Spanien mit der Fähre zurückzulegen. Die einfache Fahrt kostete ihn ca. 600 Pfund. Von Portsmouth aus würde er direkt bis Santander in Spanien fahren. Mit der Fähre käme er ausgeschlafen und fit in Spanien an. Dann hatte er nochmal 400 Kilometer bis nach Ferrol, beziehungsweise nach Valdoviño zum Campingplatz, zurückzulegen. Seine Suche wollte er dort beginnen, wo Kate Sullivan sich zuletzt aufgehalten hatte.
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