Er streichelt gedankenverloren sein Pferd. „Ach weißt du“, setzt er an, „ich glaube, Prinzipien sind manchmal auch nur eine Frage der Geldsumme ...“ Er grinst frech.
Aber ich presse nachdenklich die Lippen aufeinander. „Hm“, mache ich. „Eigentlich ganz schön schlimm, finde ich.“
„Also wenn du mal Abstand brauchst ... du kannst jederzeit herkommen.“
Ich begegne seinem Blick nur kurz, dann schließt er die Boxentür.
Durch die Stalltür kommt der andere junge Mann, der Andy verdammt ähnlich sieht. Er führt die Stute herein und sie geht brav in ihre Box.
„Das ist Robin, mein älterer Bruder“, sagt Andy deutlich. „Robin, das ist Piper, sie möchte uns auf der Ranch helfen.“
Robin sieht mich an und lässt mich nicht wieder los. Während er sich nähert, murmelt Andy verschwörerisch: „Ich muss dich vor ihm warnen, er hat im Monat drei Freundinnen!“
Am liebsten würde ich ihn fragen, ob er selbst eine hat, aber sein Bruder kneift ihn zur Strafe spielerisch in den Nacken, bevor er sich wieder mir zuwendet.
Er küsst tatsächlich meine Hand, als ich sie ihm reiche, und sagt „Bienvenido, Guapa.“ Mir reicht sein Blick, um zu verstehen, was er meint.
Es kommt mir albern vor, ihm auf Spanisch zu antworten – zumal mir das Wort vor Schreck gar nicht einfällt –, also sage ich nur: „Hallo ...“
Andy schiebt sich zwischen uns und sieht seinen Bruder streng an. „Wir gehen dann mal zum Boss“, sagt er und meint damit seinen Vater.
Ich folge ihm nach draußen und lasse Robin stehen. „Mucho gusto“, ruft er mir hinterher, und seine Augen funkeln amüsiert, als er mir nachsieht.
Auf dem Hof sagt Andy kein Wort, und ich habe Angst, dass ich ihn verärgert habe.
„Er ist ... ganz nett“, murmele ich unbestimmt, sodass es nicht mehr als höflich klingt.
Andy nickt und seufzt resigniert. „Ja, das ist er.“
Als er die Tür des Wohnhauses öffnet, atme ich tief durch.
„Glaubst du, ich schaff das?“, frage ich.
„Ach klar“, meint er aufmunternd. „Du hast den Job so gut wie in der Tasche!“
„Danke“, sage ich. „Auch dafür, dass du mir dein Pferd gezeigt hast!“
Er zwinkert mir zu. „Ich will ja, dass du wiederkommst!“
Als ich mit dem Bus zu Hause ankomme, gehe ich sofort in mein Zimmer, um meine Obrigkeit zu informieren. Vorsichtig nehme ich den blutroten Kristall von meinem Nachttisch und setze mich auf den Boden.
Mein Bruder Kevin platzt zur Tür rein: „Gillian! – Oh, darf ich auch mit fernsehen? Bitte!“
„Ich hab jetzt keine Zeit!“ Verärgert schiebe ich ihn nach draußen. „Es gibt Wichtigeres zu tun!“
Ich schließe die Tür ab und versuche, mich auf den Stein zu konzentrieren. Langsam beginne ich, mit den Händen darüber zu fahren und murmele die Beschwörungsformel. Der Kristall wird trüb und verfärbt sich, undeutlich erkenne ich das Bild einer Frau. Ihr leuchtend helles Haar ist so lang, dass ich nicht sehen kann, wo es hinter ihrem Rücken endet; sie trägt nur ein weites, weißes Gewand und steht in einem blendenden Licht. Ich glaube, dass sie so eine Art Vermittlerin zu den Kriegern hier auf der Erde ist, sie hat mir meinen Auftrag erklärt und hilft mir, wenn ich nicht weiter weiß. Sie wird das Schicksal genannt – Destiny – obwohl ich nicht denke, dass sie das Gefüge der Welt beeinflussen kann. Das können nur wir.
„Ich habe das Mädchen gefunden, Shadow“, berichte ich. „Ich versuche, ihr so schnell wie möglich den Auftrag zu erklären.“
„Wir haben nicht viel Zeit, Wisdom“, sagt die klare Stimme langsam und blickt dabei durch mich hindurch wie in Trance. „Sie muss es bald wissen. Und du musst die Anderen finden!“
„Aber woher weiß ich, wer sie sind? Sie wissen es ja nicht einmal selbst!“
Darauf geht sie nicht ein. „Eternity wirst du in einem Krankenhaus begegnen.“
„Im Krankenhaus? Aber da gibt es so viele Leute!“
„Ich sorge dafür, dass ihr euch findet. Und Shadow wird bald auf Stride treffen, er nennt sich Andy. Auch ihm müsst ihr alles erklären. Aber nun triff alle Vorbereitungen, Wisdom! Wir haben nicht mehr viel Zeit, das Böse wächst schnell.“
Damit ist sie verschwunden.
* * *
Nach dem Abendessen rufe ich bei Piper an, um sie zu fragen, wie ihre Vorstellung auf der Davis Ranch verlaufen ist.
„Du hast die Stelle also?“
„Ja, ich fange morgen an“, antwortet sie und ich höre das Lächeln aus ihrer Stimme.
„Und wie verstehst du dich mit Andy?“
„Du kennst ihn?“
„Nein, eigentlich nicht richtig, aber ich hab gehört, dass die Familie sehr nett sein soll…“
„Ja, das stimmt.“ Sie lacht noch immer, aber dann höre ich hinter ihr eine Stimme und ihre Laune schlägt um. Sie flüstert: „Ganz im Gegensatz zu meiner eigenen! Danny meint gerade, ich soll aufhören, das Telefon zu blockieren!“ Ich sehe fast vor mir, wie sie mit den Augen rollt, und muss grinsen.
„So ein Idiot!“, nörgele ich. „Na gut, dann hören wir lieber auf. Wir sehen uns ja auch bald in der Schule, oder?“
„Am Montag! Dann erzähle ich dir, wie es war! Ich gehe morgen gleich wieder hin ...“
„Prima! Dann wünsche ich euch viel Spaß!“ Als ich auflege, freue ich mich über den Erfolg. Sie vertraut mir schon jetzt so gut, dass ich Hoffnung habe, die Krieger bald auf unserer Mission anführen zu können. Aber zuerst muss ich weitersuchen und die Anderen finden. Vielleicht hilft mir Piper ja sogar dabei ...
Am nächsten Morgen erwache ich vor Aufregung schon, als es noch dunkel ist; Andy erwartet mich erst in zwei Stunden. Verzweifelt greife ich in das Regal über mir und ziehe ein Buch heraus – Jack London: Wolfsblut . Ein bedrohlicher Wolf knurrt mich an und seine gelben Augen leuchten angriffslustig. Erschrocken werfe ich es auf den Boden. Jetzt wäre mir Black Beauty lieber gewesen, wo ich doch sowieso den ganzen Tag an die Pferde denke ...
Ich springe aus dem Bett und suche in meinem Schrank etwas zum Anziehen. Es muss praktisch sein, aber auch ganz gut aussehen – schließlich will ich Robin und Andy gefallen. Bei dem Gedanken schlägt mein Herz schneller; ich kann es kaum erwarten.
Einen Pullover unterm Arm – für den Fall dass es windig ist in der Prärie – schleiche ich die Treppe hinunter. Ich schreibe einen Zettel für meine Mom und überlasse es ihr, Danny zu erklären, was ich mache. Es geht ihn ja auch gar nichts an.
Ich schlüpfe in meine Stiefel und dann unbemerkt aus dem Haus. Aus der Scheune hole ich das alte Fahrrad, das mir Allie angeboten hat. Dann folge ich wieder gedankenverloren den tiefen Pickup-Furchen.
* * *
Als ich auf der Ranch ankomme und mein Rad abstelle, fährt Robin gerade eine Schubkarre aus dem Stall. Als er mich sieht, lächelt er charmant und kommt mir entgegen.
„¡Buenos Dias, Belleza!“, begrüßt er mich und küsst mich auf die Wange. „Hast du schon gefrühstückt?“
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ganz vergessen habe, irgendetwas zu essen, und ich nehme sein Angebot dankend an.
Die Familie Davis sitzt in der Küche und freut sich, mich zu sehen. Andys Mutter Celeste ist schwanger, trotzdem steht sie auf und bietet mir gleich einen Platz an.
„Setz dich, mein Kind“, verlangt sie. Ich danke ihr mit einem Lächeln und nehme zwischen den beiden Brüdern Platz, die mir sofort Kaffee anbieten. Ich trinke zwar eigentlich keinen, aber ich bedanke mich trotzdem und nehme mir eines der süßen Brötchen aus dem Korb.
Señor Davis bestreicht Toast mit Erdnussbutter und versucht, ein Gespräch zu beginnen. „Du versorgst die Caballos? Heute, mit den Chicos?“
Durch seinen Akzent erkenne ich nicht sofort, dass er es als Frage meint, aber dann nicke ich eifrig. „Oh ja, ich freue mich schon darauf. Wie viele Pferde haben Sie denn?“
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