„Aus welchem Loch bist du denn gekrochen?“ fragt er offenbar in meine Richtung.
Es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten. Ich könnte ihm sagen, dass er wieder auf den Baum zurückgehen soll, von dem er gerade heruntergestiegen ist und sich weiter auf der Brust herumschlagen soll. Das würde mit großer Wahrscheinlichkeit in einer ziemlich eng geführten Diskussion enden, an deren Ende ich wohl meine Zahnzusatzversicherung das erste Mal in Anspruch nehmen müsste. Alternativ hierzu könnte ich auch einfach meine Klappe halten und mich ganz unauffällig abwenden, so als ob ich überhaupt nichts gehört hätte. Ich entscheide mich für Variante Nummer zwei. Ich möchte das Ende des Spiels gern noch in einer aufrechten Position erleben.
Mein geordneter Rückzug scheint zu funktionieren. Der laufende Kleiderschrank beruhigt sich genauso so schnell wie er sich erregt hat. Auch die anderen Gemüter kühlen sich auf Normaltemperatur ab als Christiano wieder auf seinen zwei Beinen steht. Das einzige, was bei Christiano tatsächlich einen leichten Bruch erlitten hat, ist eine seiner gelgestärkten Haarsträhnen, die jetzt unkontrolliert zur Seite hängt. Damit muss er aber wohl noch bis zum Ende des Spiels leben. Es scheint gerade kein Stylist mit einem Notfallset vor Ort zu sein. Abgesehen von seiner Haarblessur läuft er aber schon wieder recht rund.
Die Ausführung des Freistoßes wird zu einer richtigen Inszenierung. Nachdem Christianos Nachfahre das Spielgerät in eine optimale Liegeposition gebracht hat, was runde fünf Minuten dauert, schreitet er ein paar Schritt zurück und bleibt breitbeinig mit dem Blick eines sich duellierenden Westernhelden stehen. Er ist eben schon ein richtiger CR 7 Verschnitt, zumindest was die Show angeht. Der Freistoß selbst passt nicht zur Aufführung und gehört eher in die Kategorie „nicht der Rede wert.“ Das Spiel plätschert danach wieder so vor sich hin. Als die Zuschauer gerade kurz vorm Einschlafen sind, lässt der kleine pummelige Stürmer der gegnerischen Mannschaft mit ein paar schwerfälligen Körperfinten gleich zwei Abwehrspieler aussteigen. Trotz aller anderslautender Befürchtungen kippt er dabei nicht um und geht frei auf unser Tor zu. Kurz bevor das Pummelchen zum finalen Stoß ansetzen kann, läuft ihm die wieselflinke Kim den Ball ab und leitet gleich den Gegenzug ein. Ganz Sportsmann schmeißt sich der Beinahetorschütze auf den Boden und heult wie ein kleines bockiges Kind, dem man gerade sein Lieblingsspielzeug geklaut hat.
Irgendwann kommt es dann tatsächlich zu J.J.´s Einwechslung. Bereits nach den ersten Schritten wird mir klar, dass der späte Teilzeiteinsatz tatsächlich eine Schonungsmaßnahme war. Allerdings ging es dabei wohl eher darum, meinen Neffen vor sich selbst zu schützen. Gleich in der ersten Aktion tritt J.J. erst einmal gepflegt über den Ball. Er bleibt aber stehen und versucht gar nicht, ihm hinterher zukommen, weil er wahrscheinlich selbst nicht im Ansatz daran glaubt, dass er ihn jemals wieder erlaufen wird. Durch einen Zufall landet der Ball aber nur kurze Zeit später wieder bei ihm und entwickelt sich spontan zur ernsthaften Gefahr für seine Gesundheit. Diesmal stolpert er im vollen Lauf über das runde Leder und hakt mit dem Gesicht frontal im Kunstrasen ein. Zum Glück übersteht er den Sturz ohne weitere Blessuren. Dafür scheint er nun noch weniger Bock zu haben als vorher ohnehin schon. Für J.J. wäre es das Beste, wenn er auf der Stelle wieder ausgewechselt werden würde. Zu seinem Glück kommt er den Rest des Spiels nicht mehr an den Ball. Kurz vor dem Schlusspfiff taucht dafür Becks noch einmal freistehend vor dem gegnerischen Tor auf und nagelt die Pille unter die Latte. Von dort aus prallt das Ding direkt auf den Boden. Klaus und Becks Vater reißen sofort die Hände in die Höhe und schreien im Kanon: „Tor!!!“ Meat Loaf und Rod bringt das so auf die Palme, dass sie sich spontan zu einem Rock-Pop-Metal-Crossover entschließen. Gemeinsam grunzen sie ein Medley aus den weltbekannten Nummern „Der war niemals drin“, „Der war sowas von vor der Linie, du Spacko“ und „Wo verdammt nochmal war das Ding hinter der Linie?“. Obwohl ich genau hier und jetzt mein persönliches Wembley erleben könnte, regt sich in mir nichts. Vielleicht liegt es daran, dass ich in diesem Moment einfach nicht richtig auf die Situation vorbereitet bin oder mir fehlen einfach die richtigen Gene. Ich bemühe mich inständig, wenigstens ein wenig emotional rüberzukommen. Aber auch nachdem meine Schwester und ihrer Freundinnen ihre Versuche zur Demontage meines Trommelfells wieder aufgenommen haben, kommt bei mir kein emotionaler Gefühlsausbruch zustande. Das zaghafte „jaaaa“, das mir gerade so über die Lippen kommt, werte ich selbst eher als eine halbherzige Regung. Irgendwie ärgert es mich ja schon. Da bekomme ich die erstklassige Gelegenheit, hier und heute mein persönliches Wembley zu erleben, und ich versage auf ganzer Linie.
Meine innere Selbstmontage wird durch den Pfiff des Schiedsrichters unterbrochen. Dem hängenden Kopf des Gästespielers und dem Ball in seiner Hand zu folge, muss er diesen offensichtlich aufgefangen haben, als er vom Boden zurück in Richtung Spielfeld gesprungen ist. Das Rock-Pop-Duo wechselt sofort die Songauswahl in „Das war nie ein Neuner du Haubentaucher“ während Klaus und seine Freunde einhellig klatschen. Becks schnappt sich sofort den Ball und legt ihn auf den Punkt. Mats steht ganz Profi neben ihm und redet mit schmerzverzerrten Blicken auf ihn ein. Wahrscheinlich versucht er ihn gerade davon zu überzeugen, dass Becks den Neuner lieber nicht schießen soll. Die Bemühungen bleiben jedoch erfolglos. Becks läuft an, trifft den Ball satt und haut das Ding über das linke Lattenkreuz in die angrenzende Gartenanlage. Eigentlich hätte man wissen müssen, dass ein Typ, der aussieht wie ein Engländer, auch keine Strafstöße schießen kann. Zum Glück bleibt der Fehlversuch folgenlos, weil der Schiedsrichter erneut zur Pfeife greift und auf den Punkt zeigt. Ein Spieler der gegnerischen Mannschaft ist bei der Ausführung zu früh in den Strafraum gerannt. Im zweiten Versuch ist Mats nun an der Reihe. Mats schießt das Ding trocken in die Ecke, was bei einem Torhüter mit einer Körpergröße von nicht einmal 1,20 m ein durchaus probates Mittel ist. Durch den verwandelten Neuner steht es nun 3:0, was gleichzeitig auch der Endstand ist, da der Schiedsrichter das Spiel gar nicht mehr anpfeift. Die Eltern geben noch einmal alles. Meine Schwester und ihre Freundinnen strapazieren ein letztes Mal mein Trommelfell. Und Klaus und Frank schreien ihre Freude raus, als bräuchten sie eine intensive Behandlung beim Exorzisten.
Becks Vater hat es sich derweil schon wieder vorm Käfig bequem gemacht, öffnet Bier Nummer drei oder vier und zündet sich zur Abwechslung mal eine Kippe an. Rod scheint gleich nach dem Spielende seine Medikamente wiedergefunden zu haben. Fromm wie ein Osterlamm spaziert er über das gesamte Spielfeld und klatscht freundlich lachend jeden ab, der ihm gerade unter die Hände kommt. Für Meat Loafs Kreislauf wäre es besser, wenn er seine Medizin bald finden würde, denn er zeigt auch nach dem Spielende deutlich, dass er noch einigen, zur Not auch körperlichen, Klärungsbedarf sieht. Da Klaus mit Becks Vater aber den einzig möglichen Kontrahenten ganz gut in Schach hält, beruhigt sich auch Meat Loaf irgendwann.
Ein paar Minuten später stehen alle Eltern wieder gemeinsam an dem Platz, an dem sie auch schon heute Morgen gestanden haben. Aus einer Ecke neben den Pkw-Stellplätzen steigt ununterbrochen bläulicher Rauch auf. Wenn nicht gerade eines der Autos zu brennen beginnt, holt Rod wahrscheinlich in diesem Moment sein gesamtes Nikotindefizit auf, das sich im Laufe des Spiels angestaut hat. Die meisten Spieler kommen relativ schnell aus der Kabine zurück. Sie haben unterschiedliche aber gleichsam fadenscheinige Gründe, warum sie nicht mit ihren Mitspielern duschen können. J. J. taucht als einer der letzten wieder auf. Ich frage mich, was er die letzte halbe Stunde in der Kabine gemacht hat. Eine Dusche hätte er jedenfalls aufgrund seines eingeschränkten Bewegungsradiuses nicht nötig gehabt. Wir gehen zum Auto. Mein Neffe ist total aufgeregt, was aber weniger an dem klaren Sieg als an dem Versprechen meiner Schwester liegen dürfte, auf dem Rückweg einen Zwischenstopp in einem Fastfoodtempel einzulegen. Von der Rückseite des Gebäudes nähert sich ein mattschwarzer nach Fritten stinkender Bus. Der alte Knatterkasten sieht ziemlich abgefrackt und farblos aus. Am Steuer des Autos erkenne ich Meat Loaf wieder, was mich irgendwie nicht sonderlich überrascht. Das Leben ist halt manchmal voller Vorurteile.
Читать дальше