Der schnellen Genesung des getroffenen Spielers und der Überzeugungskunst meiner neuen Freunde ist es wohl zu verdanken, dass ich nicht vom Spielfeld fliege und mir nichts angetan wird. Nach genau 25 Minuten bläst der Schiri beherzt durch seine Pfeife zur Pause. Becks Vater hat sich abseits des Spielfeldes schon die nächste Flasche Bier aufgemacht und teert kräftig seine Lunge. Bevor Klaus zu einem weiteren Monolog ansetzen kann, laufe ich zu den Umkleidekabinen. So langsam machen sich meine drei Pott Frühstückskaffee bemerkbar. Umso mehr ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass mir die Rinnsäle jede Minute am Hosenbein hinunterlaufen. Ich laufe so schnell es geht zu dem etwas altertümlichen Vereinsgebäude, in dem die Gladiatoren gerade ihre Pause verbringen. Mit jedem Schritt merke ich die Entspannung ein wenig mehr, leider nicht nur im Kopf, sondern auch unterhalb meiner Gürtellinie. Mit großer Erleichterung drücke ich die Klinke hinunter und renne erst einmal kräftig gegen die Tür. Das verdammte Besucherklo ist verschlossen. Die voranschreitende Entspannung paart sich mit panikbedingten Hitzewallungen. Der Schweiß schießt mir aus den Poren und die Staumauer in meiner Blase scheint sich dem enormen Druck jeden Moment beugen zu müssen. Mit einer gekonnten X-Stellung meiner Beine versuche ich zu halten, was immer schwerer zu halten geht. Meine Augen gehen flehend auf die Suche nach einer Möglichkeit zur Erleichterung. Mein erster Blick fällt auf eine schöne große Eiche, die mich förmlich zu rufen scheint. Während mein Gehirn noch damit beschäftigt ist, etwaige moralische Bedenken zu verarbeiten, sind meine Beine mit dem Rest des Körpers schon unterwegs. Glücklicherweise gelingt es meinem Kopf zeitig genug, die Kontrolle über meinen Körper wiederzuerlangen, bevor ich vor der versammelten Elternschaft die Hosen hinunterlasse. Meine Augen wandern zurück zu den Katakomben. Ich renne so gut es mit verschränkten Beinen und einer randvollen Blase eben geht. Da wo die Kabinen sind, müssen auch irgendwo Toiletten sein. Aus einer offenen Tür höre ich das vertraute Rauschen einer Spülung. Ich folge dem Geräusch und schaffe es im letzten Moment gerade noch so an eines der Becken. Die Erleichterung darüber treibt mir spontan die Tränen in die Augen. Mit einem aufrichtigen Schniefen und Grunzen lasse ich meiner Blase freien Lauf. Es gibt absolut nichts, was mich in diesem Augenblick von dem abbringen könnte, was sich gerade mache. Ich habe gerade eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum es Rettung in letzter Sekunde heißen muss und nicht etwa in letzter Minute oder in letzter Stunde. Einen einzigen Augenblick später und ich hätte unter dem schallenden Gelächter einer Horde Siebenjähriger einen riesengroßen gelben Fleck vom Boden wischen dürfen.
Als ich auf den Platz zurückkehre, haben beide Mannschaften schon wieder Aufstellung genommen. Es hat offenbar keine Auswechslungen gegeben. J.J. sitzt immer noch auf der Auswechselbank und zeigt seinen ebenfalls gelangweilten Leidensgenossen einen grünen Brocken, den er sich gerade frisch aus der Nase gezogen hat. Die gesamte Auswechselbank zeigt lachend ihre Anerkennung. Auf dem Platz geht es jetzt ein weniger rassiger zu. Christiano und seine Kumpels legen mächtig los. Entweder hat es in der Halbzeit in der Kabine eine ordentliche Ansprache gesetzt oder die Spieler der Heimmannschaft haben in der ersten Halbzeit komplett die Arbeit niedergelegt, weil sie gegen die frühe Anspielzeit protestieren wollen. Ich weiß ja nicht, ob die Spielergewerkschaft bereits im Jugendbereich aktiv wird, aber eine wirkungsvollere Spielverweigerung hätte sie sich nicht ausdenken können. Die Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf diese neue Situation. Während meine Schwester und ihre Freundinnen mit ihrem lautstarken Gekreische an meinem ersten Tinnitus arbeiten, zieht auf der anderen Seite eine ziemliche Unzufriedenheit auf. Die Eltern der Gastmannschaft sehen mit ihren wedelnden Armen wie Schiffbrüchige aus, die verzweifelt versuchen, ein herannahendes Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Rod hat sich ein wenig von der Hektik anstecken lassen und hüpft wie das Rumpelstilzchen persönlich die Seitenlinie auf und ab. Mit seinem roten Kopf könnte er den anderen Eltern glatt als Signalleuchte zur Hilfe eilen. Ich vermute, dass er gerade liebend gern eine halbe Schachtel Kippen am Stück wegziehen würde, wenn er nur eine Ecke hätte, hinter der er sich verstecken könnte. Aus dem Hintergrund eilt ihm ein weiterer Rockerkollege zur Hilfe, der sich allerdings mehr für meine Eltern als für die eigenen Spieler zu interessieren scheint. Es sieht so aus, als ob der Typ, der aussieht wie Meat Loaf, sogar ein wenig Schaum vor dem Mund hat. Die Frustration nimmt nicht unbedingt ab, als Christiano nach einer starken Vorarbeit von Becks über die rechte Seite das 1:0 macht. Nun muss auch der Schiri daran glauben, dem auf etwas direkte Art und Weise mitgeteilt wird, dass man weder von ihm, noch von seinem Verband etwas hält. Meat Loaf schreit sprudelnd in Richtung des Schiedsrichters, dass dieser Idiot doch das Foul vorher hätte sehen müssen, wenn er denn nicht komplett blind ist. Da sich die Aktion direkt vor meinen Augen abgespielt hat, habe ich ziemlich deutlich gesehen, dass es nicht einmal einen Körperkontakt gegeben hat. Das hat den gegnerischen Abwehrspieler aber nicht daran hindert, theatralisch zu Boden zu gehen und sich etwa 20 Mal über den Boden zu rollen. Wahrscheinlich heult er jetzt auch nur, weil er durch die vielen Drehungen ein schweres Schleudertrauma erlitten hat.
Nun ist jedenfalls richtig Feuer in der Partie. Rod erteilt seinen Mannen den Befehl, aggressiver zur Sache zu gehen und die Gegenspieler einfach auch mal wegzukrätschen. Dies wiederum versetzt „meine“ Eltern derart in Rage, dass sie sich kollektiv und sehr direkt nach Rods Wohlergehen erkundigen. Der kleine dicke Mann neben Klaus, der offenbar Frank heißt, wird sogar noch etwas konkreter und unterstellt Rod diverse Hirnschädigungen. Die allgemeine Unruhe scheint Christiano zu beflügeln. Mit zielgerichteten Schritten lässt er seine Gegner wie Slalomstangen stehen und schafft es auch noch, die Kugel durch die Hosenträger des Torhüters zum 2:0 einzuschieben. Angetrieben von den vorherigen Unruhen kostet Frank die Situation nun umso mehr aus. Wie nach einem gewonnenen Championsleaguefinale rennt die kleine, laufende Mozartkugel im Hopserlauf die Seitenlinie auf und ab und macht dazu unaufhörlich die gute, alte Säge. Das einzige, was ihn stoppen kann, ist seine nicht vorhandene Kondition. Nach der dritten 10 m Bahn ist Frank derart fertig und verschwitzt, dass ich kurz überlege, schon einmal rein vorsorglich den Rettungsdienst anzurufen. Die klasse Einzelleistung kommt aber nicht bei jedem gut an. Rod ist nach dem Solo auf 180. Seine Arme kreisen wie die Rotorblätter eines startenden Helikopters. Bei etwas günstigerem Wind bestünde wohl die akute Gefahr, dass er auf der Stelle abhebt. Offenbar scheint der Funke auch auf seine Mannschaft übergesprungen sein. Rods Seven krätscht jetzt alles weg, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Nachdem Mats und Becks verhältnismäßig schnell über die Klinge gesprungen sind, schafft es Christiano im Moment noch schneller zu sein als seine heranfliegenden Gegenspieler. Irgendwann muss dann aber selbst er ins Kunstgras beißen. Ein Typ mit einer hochtechnisch wirkenden Sportbrille und der Statur einer Gazelle sprintet kurz nach seiner Einwechslung über den gesamten Platz und schafft es mit einer gut getimten, leicht eingesprungenen Blutgrätsche, sein Opfer zu erlegen. Christiano geht zu Boden und rollt noch etwa zehn Meter weiter bevor er sich vorsichtig aufsetzt. Seiner Mimik nach ist davon auszugehen, dass beide Beine vom Knöchel bis zum Beckengürtel mindestens zehnmal gebrochen sind. Mein Umfeld tobt und schäumt vor Wut. Klaus schreit den Fouler aus voller Kehle an, was Meat Loaf spontan dazu veranlasst, ihm ein gepflegtes Backensolo anzubieten. Das ruft mich auf den Plan. Ich habe ja noch etwas gut zu machen und ich kann meinen alten Freund Klaus in dieser Situation schlecht alleine lassen. Ich frage Meat Loaf, ob er es sich denn alleine zutrauen würde oder ob er den Rest der Rocky Horror Picture Show gleich mitbringen will. Klaus findet meinen Spruch klasse und klopft mir anerkennend auf die Schulter. Der Typ neben Meat Loaf mit Händen so groß wie Toilettendeckeln ist offenbar nicht ganz so angetan davon. Der 2 m Hüne im Holzfällerhemd schaltet sich zum ersten Mal in das Randgeschehen ein.
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