»Wenn Du mal mit mir ins Schwimmbad gegangen wärst, so wie Papa, dann wüsstest Du, wie gut ich schon schwimmen und vor allem tauchen kann!«
Rumms! So war das nicht geplant, dachte Gwen. Das tat wirklich weh, aber es war einfach nicht genug Zeit für ihre Karriere, ihren Mann und ihren Sohn gewesen. Sie hatte Prioritäten setzen müssen, die sich nun als falsch herausstellten. Aber es war immer noch genügend Zeit die Dinge zu ändern. Gwen tat einen Schritt näher an ihren Sohn heran und ging in die Hocke.
»Du hast Recht Phil, ich habe zu wenig Zeit mit Dir verbracht, und das tut mir sehr, sehr leid, aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir haben doch nur noch uns beide.«
Die Sekunden vergingen, Phil starrte weiterhin auf diese kleine Meeresschildkröte und ließ keine Gefühlsregung erkennen.
»Du, ich habe eine tolle Idee. Im LKA ist zurzeit nicht so viel zu tun und ich habe alle großen Fälle abgearbeitet. Ich kann es leicht einrichten mehr zu Hause zu sein und wir unternehmen dann einfach was zusammen. Irgendetwas, wozu Du Lust hast. Vielleicht können wir auch ins Schwimmbad gehen, wenn Du magst? Na, wie klingt das?«
Wieder verstrichen die Sekunden, die Gwen wie endlose Minuten oder sogar Stunden vorkamen. Dann endlich antwortete Phil leise und verhalten: »Ja, das wäre toll.«
Das war alles, formulierte Gwen innerlich die Frage, kam dann aber zu der Erkenntnis, dass es immerhin ein Anfang war.
»Toll! Das freut mich!« Sie nahm Phil in den Arm, drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange, den er sich aber sofort wieder abwischte, und stand auf. »So, und wohin geht es nun? Du entscheidest! Es ist heute Dein Tag, Phil.«
Während Gwen aufstand, vibrierte ihr Handy. Ob sie rangehen sollte oder lieber nicht? Es ist hoffentlich nichts Dienstliches, überlegte sie, während sie ihr Handy aus der engen Hosentasche herausfischte. Der Name auf dem Display verhieß nichts Gutes. Es war ihr Kollege. Ein Anruf an einen Sonntag auf ihrem Diensttelefon machte Gwen nervös. Gab es vielleicht wieder einen neuen Fall? Sie hatte gerade noch versprochen mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen und nun könnte sich dieses Vorhaben schon wieder in Wohlgefallen auflösen. Hin-und hergerissen drückte sie die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen.
»Gwen Fisher …«, antwortete sie und fügte amüsiert hinzu, »… ist zurzeit mit ihrer Familie auf einem Ausflug und nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton. Piep!« Danach verstummte sie und konnte ihr Lachen nur schwer zurückhalten.
»Hey Gwen, das ist ja eine tolle Begrüßung – Du kannst ruhig mit mir sprechen, ich rufe privat an.«
»Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, es würde wieder einen Fall geben. Gerade habe ich meinem Sohn erklärt, dass ich nun wieder etwas mehr Zeit für ihn habe und schon klingelt mein Diensttelefon.«
»Das tut mir leid, ich wollte Dich nicht erschrecken. Sorry. Ihr seid auf einem Ausflug? Wo denn?«
»Im Sea Life am Timmendorfer Strand. Phil sieht hier immer gerne der Schildkröte ›Speedy‹ zu und gleich werden wir wohl wieder den Seepferdchen und ›Nemo‹ einen Besuch abstatten.«
»Und? Wie kommt er mit der neuen Situation klar?«, erkundigte sich Stefan.
Gwen wandte sich um, entfernte sich ein paar Schritte von Phil und senkte ihre Stimme.
»Er ist immer noch sehr in sich selbst gekehrt und redet kaum ein Wort mit mir. Mit meiner Mutter scheint er prima klar zu kommen. Als wir sie vorhin abgeholt hatten, war er wie ausgewechselt. Ich hoffe nur, dass er sich mir bald wieder anvertraut.«
Stefan überlegte kurz, ob er ihr offen entgegnen sollte, dass ihr Sohn auch in der Vergangenheit mehr mit seinem Vater unternahm als mit ihr. Bis zur Normalität würde es ein langer Weg werden. Er entschied sich dagegen und versuchte Gwen eher Mut zu machen. »Ich bin mir sicher, dass Du mit etwas Geduld und Deiner bezaubernden Art bald eine Brücke zu ihm schlagen wirst.«
Gwen schluckte schwer, als sie seine liebevollen Worte vernahm. Dann aber sagte sie sich, dass Stefan ein Kollege war und ihr Mann vor gerade einmal einer Woche verstarb. Sie musste sich zusammenreißen und nicht gleich dem Nächstbesten in die Arme fallen. Sie würde das alleine hinbekommen.
»Auf der Rückfahrt könnt ihr ja noch zu McDonalds gehen, oder?«, schlug Stefan vor. »Das lieben doch alle Kinder!«
»Das ist eine hervorragende Idee, zumal ich für heute Abend noch gar nichts zu essen vorbereitet habe.«
»Dann sehen wir uns morgen wieder im LKA? Ich freue mich auf Dich! Halt die Ohren steif. Du schaffst das schon!«
»Ja, mache ich. Ich freue mich auch schon. Tschüss!«
Die letzten Worte hauchte Gwen geradezu ins Telefon, fast unfähig weitere Abschiedsworte zu finden, und legte auf.
Sie drehte sich wieder zu Phil und ihrer Mutter um und bemerkte dabei zu spät, dass ihr Sohn dem Ende des Telefonates zugehört hatte. Enttäuschung und Eifersucht lag in seiner Stimme, als er murmelte: »Du bist gar nicht gerne mit uns zusammen und freust Dich schon wieder mehr auf die Arbeit, als die Zeit hier mit mir zu verbringen.« Dann wandte er sich ab und ging schnurstracks in Richtung Seepferdchen.
Die nächsten Stunden grübelte Gwen vor sich hin und trottete ihrem Sohn und ihrer Mutter in einigem Abstand hinterher. Phil hatte in der Vergangenheit schon immer viel mehr mit seinem Vater, als mit ihr unternommen. Sollte dies etwa das Problem sein, welchem sich Gwen nun gegenübersah? Warum hatte sie es nur soweit kommen lassen? Die beiden Männer hatten einfach mehr gemeinsame Interessen, solche ›Männerdinge‹, sinnierte Gwen. Aber trotzdem hätte sie sich mehr mit einbringen müssen. Vielleicht hätte sie auch mehr Vorschläge für gemeinsame Unternehmungen oder Kinobesuche machen sollen. Aber stattdessen war sie mehr in ihrer Arbeit vertieft gewesen und war oft spät nach Hause gekommen. Es war kaum noch Zeit, um Abendbrot zu machen und ihr Sohn musste dann schon wieder ins Bett. Am Wochenende hatte sie viel im Haushalt zu tun und wenn sie einmal eine Stunde oder auch zwei für sich selber hatte, liebte sie es zu lesen oder auch einmal nichts zu tun. So vergingen die Jahre in immer dem gleichen Trott und sie bemerkte nicht einmal, wie die Bindung zwischen Vater und Sohn immer stärker wurde. Und auf einmal ist alles anders, beendete Gwen ihre Gedanken und schaute auf die Uhr. Sie ging wieder schneller und schloss zu Phil und Beth auf.
»Wir müssen so langsam wieder an die Heimfahrt denken. Habt ihr Hunger? Wollen wir vielleicht noch bei McDonalds in Eutin einen Stopp einlegen?«
Gwen beobachtete Phil genau und ihr fiel ein Stein vom Herzen als er lächelnd erwiderte: »Ich habe Hunger auf einen Cheeseburger!«
»Das ist doch prima! Und Du Mutti? Hast Du auch Hunger auf einen BigMac oder so?«
»Du kennst mich doch Gwen, ich mache mir nichts aus dem Burgerzeug, aber ich komme gerne mit. Es gibt doch mittlerweile auch leckere Salate, oder?«
»Aber klar!«, erwiderte Gwen rasch. Sie war froh, dass die Idee ihres Kollegen so guten Anklang gefunden hatte.
»Und Phil, auf dem Weg dahin, kannst Du Dir schon mal überlegen, was Dir der Weihnachtsmann Schönes bringen könnte. Es ist schließlich nur noch einen Monat bis zum 24. Dezember und die Zeit wird rasend schnell vergehen.«
Der Halt bei McDonalds befriedigte alle Wünsche. Phil bekam seinen Cheeseburger, Beth hatte ihren Salat und Gwen genehmigte sich einen Wrap. Gesättigt und träge setzten sie sich wieder ins Auto und Gwen startete den Motor. Es dauerte keine zehn Minuten, bis Phil auf der Rücksitzbank eingeschlafen war. Das gleichmäßige Vibrieren des Motors und der monotone Klang ließen Phil immer schnell einschlafen. Das wusste Gwen noch aus den Tagen, als sie Phil im Kinderwagen herumgefahren hatte. Manchmal, wenn er nicht einschlafen wollte, war dies die einzige Möglichkeit, ihn doch noch zum Schlafen zu bewegen. Der Kinderwagen war Vergangenheit und heute übernahm jegliches motorisierte Fahrzeug diese Aufgabe. Bus, Bahn, Auto oder Flugzeug waren alle gleich gut, wenn es darum ging, Phil müde zu machen. Gwen schaute lächelnd in den Rückspiegel und sah, wie der Kopf ihres Sohnes unkontrolliert von einer Seite auf die andere nickte. Ein untrügliches Zeichen von tiefem Schlaf.
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