Mark begann, wie er es schon oft getan hatte, sein Netz auszuwerfen. Im Schutz der Anonymität waren viele Spieler bereit, wildfremden Menschen Vertrauen zu schenken und ihnen ihr Herz auszuschütten. In einer knappen halben Stunde der Unterhaltung, teils privat, teils öffentlich, hatte Mark, alias Miss Gore, schon etliche Details aus dem Leben des Neulings in Erfahrung gebracht. Sein Name war in Wirklichkeit Jens-Gerwin, oder kurz Jens, wie ihn seine Freunde nannten. Er war in der Scheinwelt in seinem eigenen Geschlecht unterwegs, aber sicherlich hatte er mit seiner Erscheinung etwas nachgeholfen, denn so muskulös war in der realen Welt nun wirklich kein Mensch. Mark erfuhr auch, dass Jens sehr alleine war. Er hatte weder Frau noch Kinder und verbrachte seine Freizeit immer wieder gerne mit Prostituierten, die er meistens bei sich zu Hause empfing. Mit ihnen konnte er seine spezielle Vorliebe nach Schlägen und Auspeitschungen ausleben. Es war alles nur eine Frage des Geldes. Dies war für Jens-Gerwin allerdings weniger ein Problem, da er als Computerexperte sehr gut verdiente. Genauso stellte Mark ihn sich dann auch vor – als Nerd. Computerbegeistert, ohne Freundin, nicht ungepflegt, aber auch weder mit topaktuellem Haarschnitt oder Kleidung.
Zufrieden schwang sich Mark von seinem Computer auf, nachdem er sich von beiden verabschiedet hatte. Für heute hatte er genug in Erfahrung gebracht und fühlte sich sehr wohl bei dem Gedanken bald noch eine weitere gute Tat zu vollbringen. Und er hatte auch schon eine Ahnung, wie er das anstellen könnte.
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Kay war sehr durstig. Seine Kehle war wie ausgetrocknet und seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Seine Umgebung nahm er kaum noch wahr und war die meiste Zeit schon leicht benommen. Fast drei Tage waren bisher vergangen, seitdem der Irre ihn hier in seinem engen Käfig abgeladen hatte, wie ein Stück Vieh. Das Klebeband versiegelte seinen Mund immer noch so effektiv wie vor drei Tagen, so dass er keinen Laut von sich geben konnte. Nach scheinbar endlosen Versuchen hatte er schließlich eine Stellung gefunden, in der er nicht mehr so große Schmerzen ertragen musste. Seine Arme und Hände hinter seinem Rücken waren mittlerweile taub. Seine Handschellen spürte er seit Stunden nicht mehr. Jede noch so kleine Möglichkeit sich bemerkbar zu machen war ihm genommen und Kay grübelte unablässig über seinen nächsten Schritt nach.
Die Fenster waren zugehängt und nur ein kleiner Lichteinfall ließ erahnen, ob es gerade Tag oder Nacht war. Ansonsten war es dunkel in dem Raum. Kay konzentrierte sich auf die ihn umgebenden Gerüche und Geräusche. Es roch nach Dünger und Erde. Auch konnte er den Geruch von Benzin oder Verdünnung erahnen. Die Geräusche, die ihn umgaben waren weiter entfernt und sehr leise. Hin und wieder vernahm er das Gekreische von Kindern, wie aus einem Kindergarten oder aus einer Schule. Autogeräusche waren immer mal wieder in der Entfernung zu hören. Es waren auch eher PKWs und nicht so häufig LKWs. Sonst war da nicht viel, was er zu hören bekam. Bei wem sollte er sich dann auch bemerkbar machen, wenn niemand in der Nähe war? Die Lage erschien ihm hoffnungslos. Kay dachte an seine Frau. Diesmal in Liebe und mit Wehmut. Er war sich gar nicht mehr so sicher, dass er sie noch einmal wiedersehen würde. Warum hatte er sich nicht verabschiedet und sie in den Arm genommen, als er das letzte Mal die gemeinsame Wohnung verlassen hatte? Aber sie war in letzter Zeit immer abweisender geworden. Vielleicht hatten sich auch ihre Verhalten gegenseitig beeinflusst, überlegte Kay. Weniger Aufmerksamkeit von seiner Seite ließ auch nicht sehr viel Zuneigung seiner Frau erwarten. Er kam zu der Erkenntnis, dass die Beziehung, wie sie nun zu seiner Frau war, durch ihn selber verursacht worden war. Während er seinen Gedanken nachging, nickte er immer wieder ein. Der Durst machte ihm am meisten zu schaffen. Warum war er überhaupt hier? Was war genau passiert? Kay konnte sich kaum konzentrieren. Je mehr er nachdachte, desto mehr Kopfschmerzen bekam er. Auf einmal wurde ihm alles klar. Nun wusste er warum der Fremde zu ihm gesagt hatte, dass er ihm nur seine eigenen Wünsche erfüllen würde. Es machte alles einen Sinn und erschreckend deutlich erkannte Kay nun, welches Schicksal vor ihm lag. Er würde sterben müssen.
Dienstag, 20. November 2012, 18:30
»Ich bin zu Hause«, schallte Gwens Stimme durch ihr sonst so lebhaftes Heim. Heute war alles ruhig. Gwen hing ihren Mantel an die Garderobe und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Sie liebte den Duft des frisch gebrühten Kaffees nach einem langen Arbeitstag. Sie blickte auf die Uhr, die schon nach 18:00 Uhr zeigte und wunderte sich, dass ihre Mutter sich bisher gar nicht bemerkbar gemacht hatte.
Beth war ein Familienmensch. Als junges Mädchen lebte sie mit ihrem Mann Eric in Irland. Beide hatten große Pläne. Sie wollten mindestens drei Kinder haben und alle sollten zusammen unter einem Dach wohnen. So hatte es sich Elisabeth immer vorgestellt. Als Eric von seinem damaligen Arbeitgeber ein Angebot bekam nach Deutschland zu gehen, griffen sie sofort zu. Beth wurde schwanger und alles war perfekt, bis zu jenem trüben Dezembertag, der Eric das Leben kostete. Es waren noch knapp sechs Wochen bis zu Gwendolyns Geburt, als Eric abends auf vereister Fahrbahn von der Straße abgekommen war und seine Fahrt sowie sein Leben an einer uralten Eiche endeten. Beth war damals in einer ähnlichen Situation wie Gwen heute und sorgte sich um ihre Zukunft. Was soll werden? Wie würden sie über die Runden kommen? Wie konnte sie die Betreuung des Neugeborenen sicherstellen? Zugegeben, Phil war mittlerweile aus dem Gröbsten raus, aber doch waren bei Gwen die gleichen Gedanken im Spiel gewesen, als sich Beths Vergangenheit im Tode von Paul wiederholte. Beth war damals in der glücklichen Situation gewesen, dass ihre eigene Mutter eingesprungen war, um die Betreuung von Gwen zu übernehmen, während Beth arbeiten ging und das bitter nötige Geld nach Hause brachte. Beth war all die Jahre für ihre Tochter dagewesen und versuchte, ihr ein möglichst sorgenfreies Leben zu bereiten. Die Umstände waren nicht immer die besten und einen neuen Lebenspartner hatte Beth nie mehr gefunden. Umso mehr freute sie sich, als Paul in Gwens Leben trat und auch Gwen schwanger wurde. Die Aussicht darauf Oma zu werden, spornte sie richtig an. Lisbeth war immer ein Teil der Familie geblieben und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie die Betreuung von Phil übernehmen durfte. Auch später, als Phil in die Schule kam, war Beth für ihren Enkel da, holte ihn von der Schule ab und kochte Mittagessen. Sie war trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre noch fit und beweglich und konnte Phil noch immer das Wasser reichen. Durch Pauls Tod änderte sich alles für Gwen, das wusste Beth nur zu gut und sie stand ihrer Tochter immer zur Seite. Sie war halt ein Familienmensch, auf den man zählen konnte.
»Mutti? Beth? Bist Du da?« Irritiert ging Gwen um die Kochinsel der Küche herum und trat durch das Esszimmer ins Wohnzimmer. »Ach hier bist Du«, flüsterte Gwen, als sie ihre Mutter schlafend auf der Couch vorfand. Sie stellte ihren Kaffeebecher auf dem Couchtisch ab und setzte sich neben ihre Mutter, bevor sie sie behutsam weckte. »Hey, Mutti, ich bin wieder zu Hause. Du hast geschlafen. Ist alles okay? Ist Phil oben?« Beth öffnete noch ganz verschlafen ihre Augen und freute sich, ihre Tochter zu sehen.
»Ja, er war den ganzen Tag in seinem Zimmer. Er hat gespielt, gelesen und war am Computer. Irgendwie wollte er heute nicht nochmal raus oder etwas unternehmen. Er war nicht einmal für ein Eis zu begeistern.« Traurig nahm Gwen ihre Mutter in den Arm.
»Nein, er trauert auf seine Weise. Ich kann ihn gut verstehen und schaue mal nach ihm.«
»Es wird auch Zeit, dass ich nach Hause komme. Ich packe kurz zusammen und lasse euch noch den Abend zusammen. Gib meinem Enkel ein Küsschen von mir. Wir sehen uns morgen.« Gwen drückte ihre Mutter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging mit einem mulmigen Gefühl nach oben, um nach ihrem Sohn zu sehen.
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