Dieter Schulz
Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren
Kindheitserinnerungen 1938 bis 1950
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Dieter Schulz Mein Leben im zweiten Weltkrieg und in den ersten Nachkriegsjahren Kindheitserinnerungen 1938 bis 1950 Dieses ebook wurde erstellt bei
Sankt Martin 1938
Der Kriegsausbruch
Schule
Die armen Russen
Die armen Juden
Ein spezielles Sparkonto
In Burscheid
Die Sicherheit in Düsseldorf war nicht sehr gut
Der Luftschutzkeller unter der Friedenskirche
Verschickung nach Thüringen
Zurück in Düsseldorf
Der 11. Juni 1943
Bad Kissingen
Der 22. September 1943 kurz vor Mitternacht
Eine feine Wohnung auf einem schönen Bauernhof
Seubrigshausen
Zurück nach Düsseldorf
Die Wohnung war ein Lagerraum
Die zweite Verschickung nach Thüringen
Unsere Feinde waren auf dem Vormarsch
Wieder eine Heimreise nach Düsseldorf
In Opladen
Mein Vater hatte eine Wohnung gefunden
Das Jahr 1945
Ein plötzlicher, verschwenderischer Wohlstand
Die Amerikaner hatten die linke Rheinseite besetzt
Der Befehl vom Gauleiter Florian
Mein Vater wurde zum Volkssturm eingezogen
Besondere Erlebnisse von Günter und mir
Der 17. April 1945, die Amerikaner in Düsseldorf
Herr Hemmbeck war kein Nazi mehr
Eine Doppelhaushälfte für uns
Der Hunger wurde unser ständiger Gast
Amis auf der Albert-Straße
Ich sollte eins auf die Fresse kriegen
Besser als bares Geld
Unsere neuen Nachbarn
Karl-Heinz Strathmann
Für die weißen Stängel konnte man alles bekommen
Der Pfarrer von Sankt Vinzenz
Die Amis gingen, die Tommis kamen
Mein persönlicher Löschteich
Russen in Düsseldorf
Walter
Wieder Schule
Adolf
Die bräunlichen Ablagerungen
Der Hunger und der allgemeine Mangel
Kartoffeln aus Grimmlinghausen
Eine Getreidemühle hinter Neuss
Ein Duden
Überfallkommando
Zuckersäcke
Franz Paschen
Die allgemeine Lage verbesserte sich
Die Währungsreform
Frau Kösters
Eisenschrott und Buntmetalle
Eine viel versprechende Entdeckung
Das Grundgesetz
Eine Lehrstelle
Nachwort
Impressum neobooks
An den Sankt-Martins-Zug vom 9. November des Jahres 1938 erinnere ich mich genau. Obwohl ich damals erst knapp 3 1/2 Jahre alt war, sehe ich die Ereignisse, die ich mir damals allerdings überhaupt nicht erklären konnte, auch heute noch klar vor meinem geistigen Auge. Das genannte Datum ist mir natürlich später von meinen Eltern genannt worden. Ebenfalls klärten mich meine Eltern später über das schreckliche Geschehen auf.
Im Kindergarten hatte ich gelernt, dass der Heilige Martin ein sehr guter Mann war, der aus christlicher Nächstenliebe für einen armen Bettler seinen Mantel teilte. Im Gedenken daran sollten wir Kinder am Ende des Sankt-Martins-Zuges eine große Tüte mit vielen Leckereien bekommen. Wir sollten daraus lernen, dass auch wir für andere Menschen Gutes tun sollten.
Der Martins-Zug wurde auf dem Hof der Schule an der Jahn-Straße zusammengestellt und dann zog er zunächst über die Jahn-Straße. Mit großer Freude trug ich meine Martinslampe. Dass einige Kinder sehr viel größere und schönere Martinslampen hatten als ich, bemerkte ich zwar, Neidgefühle hatte ich aber deswegen nicht. Im Martins-Zug kreisten meine Gedanken aber ohnehin nur um die Martinstüte mit den Leckereien. Die sollten wir nämlich vom Martinsmann persönlich bekommen.
Der Zug bog nach rechts ab in die Kirchfeld-Straße und es ging in Richtung Friedrich-Straße, die überquert wurde. Rechts stand die Sankt-Petrus-Kirche und hier kam der Zug direkt hinter der Sakristei zum Stehen. Es wurde nicht mehr gesungen und auch die Blaskapelle legte eine Pause ein. Den Grund dafür erklärten meine Eltern mir: Vorne, was ich aber nicht sehen konnte, teilte der Heilige Martin gerade mit seinem Schwert seinen Mantel, um dem armen Bettler eine Hälfte davon zu geben. Was der Heilige Martin da machte, war ein großartiger Akt christlicher Nächstenliebe. Diese Erklärung reichte aus, um mich ohne Ungeduld auf die sehnsuchtsvoll erwünschte Martinstüte warten zu lassen. So verhielten sich auch all die anderen Kinder, die auf das Geschenk des Heiligen Martin warteten.
Da war aber noch etwas anderes. In der erwartungsvollen Stille lag eine fühlbare Spannung in der Luft, die jedoch mit dem, was der Heilige Martin da vorne machte, nichts zu tun haben konnte. Es geschah nämlich etwas, was so nicht sein konnte und auch nicht sein durfte. Sollte das etwas mit dem Martins-Zug zu tun haben? Nie und nimmer! Was da geschah, hat sich deshalb so fest in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich später jeden Martinszug mit diesem Ereignis in Verbindung brachte. Besonders, nachdem meine Eltern mich später, das heißt nach dem Kriege, über das Grauenhafte, das sich da in unmittelbarer Nachbarschaft der Sankt-Peter-Kirche abspielte, aufklärten.
Die Ruhe wurde plötzlich unterbrochen. Spitze, schrille Schreie ertönten, brüllende Männerstimmen dröhnten herüber, Glasscheiben zerbarsten klirrend und aus einem Fenster fielen Möbel heraus. Der gellende Schrei, der durch Mark und Bein ging, war der ein Hilfeschrei? Und was war mit dem weinenden Kind da drüben in der Haustür? Durfte es nicht mit dem Martinszug gehen?
Eigenartig war das, sehr eigenartig! Hier die vielen bunten Martinslampen, die erwartungsvolle Freude, da drüben aber auf der anderen Straßenseite die brüllende Wut und das schreiende Entsetzen. Gehörte das alles zum Martinszug? Wie lange dauerte dieser Lärm, diese Störung? 10 Sekunden, 20 Sekunden oder gar 30 Sekunden? Das konnten mir auch später meine Eltern nicht sagen. Gott sei Dank spielte die Blasmusik wieder und die dicke Pauke sorgte dafür, dass der rätselhafte, störende Lärm übertönt wurde. Die unangenehme Störung war aber fast vergessen, als der Martinszug sich wieder in Bewegung setzte und das Lied „Lustig, lustig trallerallala, nun ist Martins Abend da“, angestimmt wurde. Der Heilige Martin saß hoch zu Ross und lachte mich freundlich an. Einer seiner Helfer gab mir die Martinstüte und in diesem Moment war alles wunderschön. Alles, alles war wieder gut und das von vorhin, das war doch nur eine kleine Störung, oder? Jedenfalls hatten wir nichts damit zu tun, nicht wahr?
Der Martinszug löste sich auf und die Menschen, zumeist Eltern mit ihren Kindern, die aber nun außer den Laternen noch die Martinstüten trugen, eilten nach Hause. Die schrillen Schreie, die brüllenden Männerstimmen und das klirrende Geräusch zersplitternden Glases waren aber wieder zu hören. Diesmal spielte sich das für mich nach wie vor Rätselhafte auf der Elisabethstraße ab. Da ich aber im Besitz der Martinstüte war, berührte mich das doch alles nicht. Wenn ein Kind froh sein konnte, so war ich es.
Wie ich bereits erwähnte, haben meine Eltern mich nach dem Kriege über das, was damals geschah, aufgeklärt: Demnach war ich Zeuge der so genannten „Reichskristallnacht“. Dieses beschönigende Wort steht für ein Judenpogrom, wie es Deutschland zuvor noch nie erlebt hatte. Als 3 ½ jähriger konnte ich natürlich nicht begreifen, dass da Menschen in höchster Not waren, dass sie gedemütigt und gequält wurden, dass viele von ihnen zum Krüppel geschlagen und viele ermordet wurden. Darüber wurde bei uns zu Hause erst nach dem Kriege, das heißt, nach der Nazizeit gesprochen.
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