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Er blieb noch drei Tage in Shoal. Bolder und Myra versuchten vergeblich, ihn zum Bleiben zu überreden. Boc und Cora traf er nicht wieder, ebenso wenig wie das geheimnisvolle Mädchen, das – und da war er sich ganz sicher – mit ihm den Fluch der Magie teilte. Sie war der einzige Mensch weit und breit, mit dem er offen und ohne Furcht vor Verfolgung und Ausgrenzung reden konnte, erkannte er. Er sehnte sich nach einem Gespräch mit ihr und beschloss, sie zu suchen. Immer und immer wieder wanderte er durch die Straßen der Stadt und hielt Ausschau nach ihr. Schließlich gestand er sich ein: Sie musste Shoal verlassen haben. Und so zog er am selben Nachmittag gleichfalls los. Er hatte keine Ahnung, welchen Weg sie eingeschlagen haben könnte, deshalb folgte er einfach der Straße, die nach Inay, der Hauptstadt Koridreas, führte.
Nach ein paar Stunden zog die Dämmerung herauf. Die Straße, der er folgte, führte durch einen hügeligen Wald. Die letzte Begegnung mit Reisenden lag schon eine Weile zurück. Die meisten hatten wohl schon Gasthäuser aufgesucht, doch er war es gewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen. Jetzt besaß er zwar genug Geld, um sich eine leckere Mahlzeit, ein Bier und ein Bett leisten zu können, aber hier schien weit und breit kein Gasthof zu sein. Vor einer Stunde war er an einem Bauernhof vorbei gekommen, verspürte aber wenig Lust, dorthin zurückzulaufen. Myra hatte ihm zwei Schläuche mit Wein und Wasser, einen Laib Brot, sowie Käse und Hartwurst eingepackt, und so machte er es sich unter einem Baum gemütlich, aß und trank und dachte wehmütig an seine Freunde. Der Wein machte ihn müde, und bald schlief er tief und fest.
Es ist ein bitterer Sieg, der einzige, den er in diesem Feldzug erlebt hat, und gleichzeitig die schlimmste Niederlage für die Menschlichkeit. Der Krieg neigt sich dem Ende zu. Der Anfang vom Ende kam vor fünf Monaten, als die Truppen von Koridrea zum Gegenschlag ausholten. Sie marschierten nach Orinokavo ein und drängten die kaiserliche Armee, deren Soldaten jetzt von Eroberern zu Verteidigern geworden sind, überall zurück. Seine Einheit befand sich auch auf dem Rückzug, gehetzt von den feindlichen Soldaten, doch dann entschlossen sich die Gejagten, bittere Rache zu nehmen. Weit abseits von der Front drangen sie über die Berge ins Feindesland ein und überfielen ein strategisch völlig unwichtiges Dorf. Etwa fünfzig koridreanische Grenzer bewachten es, und ebenso viele männliche Dorfbewohner stellten sich ihm und seinen Kameraden entgegen, aber sie waren schlecht gerüstet und nur mit Mistgabeln und Sensen bewaffnet. Gegen die sechsfache Übermacht der Soldaten seiner Einheit hatten sie keine Chance.
Nach der Schlacht zündeten die Soldaten aus Orinokavo das Dorf an und warteten. Die meisten der in den Kellern und Scheunen versteckten Frauen und Kinder schafften es nicht. Ihre furchtbaren Schreie stachelten den Blutrausch vieler seiner Kameraden noch mehr an. Sie schlachteten die wenigen Kinder, die den Flammen entkamen, ab und vergewaltigten ihre Mütter. Er ist dabei gewesen, unfähig, sich an dem Morden und Schänden zu beteiligen, ebenso wenig, wie dem Frevel Einhalt zu gebieten. Eine mutige und verzweifelte Minderheit aus seiner Einheit hat versucht, sich gegen die menschlichen Bestien aus den eigenen Reihen zu stellen; auch sie sind jetzt tot. Er selbst hat die Raserei überlebt, weil er zu feige gewesen ist, diesem Wahnsinn entgegenzutreten.
Jetzt geht er wie benommen durch die rauchenden Ruinen. Ein geköpfter Säugling liegt im Rinnstein. Raben hacken nach dem Schädel des Kindes, streiten darum, und der Kopf rollt hin und her. Eine Frau kriecht wimmernd durch den Staub und lässt eine Blutspur hinter sich. Bevor er sie erreicht, erschlaffen ihre Muskeln, und ihre Augen brechen. Sie ist tot. Leichen überall. Er wandert weiter, erreicht das unübersichtliche Gelände außerhalb des Dorfes, wo er sich während des Gefechts versteckt hat, um dem Massaker zu entgehen. Einer der koridreanischen Grenzer liegt da. Es ist der, den er selbst getötet hat. Vor seinem inneren Auge wiederholt sich das Geschehen, das sein Leben verändern wird:
Der Mann überraschte ihn, als er sich absetzen wollte, und ging voller Wut auf ihn los. Der Grenzer kämpfte tapfer und verzweifelt, war ihm aber unterlegen und sah den Schwertstoß nicht kommen, der ihn unterhalb des Brustbeins durchbohrte. Er drückte den Sterbenden mit seinem Stiefel auf den Boden und zog sein Schwert aus seinem Körper. Dann wollte er vom Ort der Schlacht fliehen, aber seine Beine gaben nach, und wie gelähmt sank er neben seinem Feind auf die Knie.
Dessen Sterben dauerte lange, und er war nicht fähig gewesen, den Mann zu verlassen. Verborgen durch Büsche und Felsen hörte er das Prasseln der Flammen und das Krachen der zusammenbrechenden Häuser, die Triumphschreie seiner Kameraden und die um Gnade flehenden Opfer, roch das Blut und den Rauch. Der anklagende Blick des Sterbenden, voller Angst, Schmerz und Wut, durchbohrte ihn und schmerzte ihn mehr als die unbedeutende Schwertwunde, die er während des Kampfes erlitten hatte. Die lautlos murmelnden Lippen – verfluchten sie ihn? Er merkte gar nicht, wie ihm Tränen über das Gesicht strömten und er die Hand seines Feindes hielt, der ihm in diesem Augenblick näher war als seine so genannten Kameraden. Ihm war nicht bewusst, dass die gestammelten Worte der Verzweiflung und Scham, die an sein Ohr drangen, seine eignen waren. Dann veränderte sich der Blick des tödlich verwundeten Mannes. Prüfend musterte er ihn, seine Miene wurde weicher, als ob er nach einem Rest Menschlichkeit im Antlitz seines Mörders gesucht und diesen gefunden hätte. Dann sprach er mit verblüffend klarer Stimme und rang ihm ein Versprechen ab, bevor er sein Leben aushauchte. Er, der Soldat aus Orinokavo, hat geschworen, diesen letzten Wusch seines Feindes zu erfüllen. Warum? – Er weiß es nicht.
Die Soldaten seiner Einheit sind längst fort. Er hat sich versteckt, als sie abzogen, wollte nicht mehr zu ihnen gehören, war jetzt ein Fahnenflüchtiger. Dann ist er auf der Suche nach Überlebenden durch die Stätte des Gemetzels gewandert und steht nun wieder vor dem Leichnam, an den ihn ein Versprechen bindet. Vielleicht kann er etwas von dem Grauen wiedergutmachen, das er und seine Kameraden über dieses kleine Dorf gebracht haben. Noch einmal beugt er sich zu dem Toten hinab. Doch plötzlich reißt dieser die Augen auf, setzt sich mit einem Ruck auf, wobei ein Blutschwall zwischen seinen Lippen hervorquillt. Dann spürt er das Messer des Toten an seiner Kehle…
Traigar spürte den kalten Stahl an seinem Hals und wusste, er träumte nicht mehr. Beinahe wäre er mit einem Aufschrei aus seinem Alptraum hochgefahren, und nur äußerste Willensanstrengung bewahrte ihn davor. Er öffnete die Lider nur zu einem ganz schmalen Schlitz und sah eine Gestalt über sich gebeugt. Die Morgendämmerung hatte schon eingesetzt, und er erkannte einen zotteligen, verfilzten Haarschopf, einen schmutzstarrenden Bart, ein Gesicht voller Blutergüsse mit einer kaum verheilten und verschorften Narbe auf der rechten Seite und ein dunkles Auge, das ihn anstarrte. Die Höhle des anderen Auges war leer und vernarbt. Stinkender Atem schlug ihm entgegen. Vorsichtig, ja fast behutsam, schnitt der Mann den Lederriemen durch, an dem Traigars Geldbeutel um seinen Hals hing, erhob sich leise und verschwand. Der Junge blieb noch eine Minute still liegen, atmete tief durch und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Dann stand er auf und griff nach seinem Dolch, doch die Scheide war leer. Der Räuber hatte sein eigenes Messer benutzt, um den Riemen zu durchtrennen. Er hätte ihm auch ohne weiteres die Kehle durchschneiden können.
Traigar hörte die Schritte des Mannes verklingen, als der sich entfernte. Er hatte die nördliche Richtung eingeschlagen. Der Junge folgte ihm schnell und leise. Bald entdeckte er die Gestalt weit vor sich. Der Räuber humpelte und kam nur langsam voran. Er war ein Riese, so groß wie Fitz, aber massiger und stärker. Plötzlich bog der Dieb nach links ab, in den Wald hinein. Traigar schlich vorsichtig bis zu der Stelle, an der der Mann den Weg verlassen hatte, und folgte ihm auf einem schmalen Wildwechsel. Zwischen den Bäumen hindurch schimmerte der Waldboden heller; dort schien eine Lichtung zu sein. Er schlug einen Bogen und näherte sich der Waldlichtung von der anderen Seite.
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