Gerda M. Neumann - Greystone Manor

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Olivia Lawrence, Übersetzerin und Journalistin, sitzt an einem Vorfrühlingstag auf einer Bank in den Inns im Zentrum von London, als der Wind ihr ein Blatt Papier zuweht: eine Todesanzeige. Die Dame, derer darin gedacht wird, ist allerdings quicklebendig: die umstrittene Bildhauerin Victoria Gaynesford, die zurückgezogen in ihrem Landhaus Greystone Manor in den Chiltern Hills wohnt. Ehe Olivia sie noch warnen kann, geschieht ein Mord – und Olivia gerät in ein rätselhaftes Gespinst aus indianischen Steinfiguren und englischemTaxus, verjährtem Kunstdiebstahl und aktueller Todesgefahr. Ein Detektivroman in der klassischen englischen Tradition von Agatha Christie und Margery Allingham.

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Gerda M. Neumann

Greystone Manor

Olivias erster Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.

Alle Rechte vorbehalten.

»Greystone Manor« erschien zuerst 2010 in der Edition Octopus, Münster.

Von der Autorin überarbeitete Fassung erschien 2016 im Prospero Verlag, Münster & Berlin.

Satz: Eleonore Neumann.

Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.

www.epubli.de

Verlag: Gerda Neumann

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Grundriss Erdgeschoss

Olivias Skizze vom Erdgeschoss Grundriss Erster Stock Olivias Skizze vom - фото 1

Olivias Skizze vom Erdgeschoss

Grundriss Erster Stock

Olivias Skizze vom ersten Stock Kapitel 1 Hoch stand ein durchsichtiger - фото 2

Olivias Skizze vom ersten Stock

Kapitel 1

Hoch stand ein durchsichtiger, klarer Himmel über London und ein übermütiger Wind wirbelte vom Fluss herauf durch das enge Gassengewirr in die Stadt. Olivia saß auf einer Bank in Lincoln’s Inn. Die Hände noch wintertief in den Manteltaschen vergraben suchte sie, den Frühling in diesem Geviert alter Ziegelsteinhäuser zu erspüren. In den Fassaden um sie herum waren Fensterflügel aufgestoßen worden und das Durcheinander von Stimmen und Läuten der Telefone, das Summen von Computern, Druckern und Faxgeräten befreite den einsamen Rasen von der Stille des Winters. Noch knarrten die kahlen Äste der großen Bäume in ihrer Erstarrung, wenn eine Böe in sie einfiel, doch auf dem kurzen Gras rangelten zwei Amseln bereits um den ersten Wurm. Sie unterbrachen ihren Streit auch nicht, als ein Schwarm weißer Papierblätter auf sie herab segelte. Olivia spürte einen vagen Stoß an ihrem Hut und zog einen der weißen Bögen aus den Federn. Sie las:

›In the dark valley’s

Silver-grey fragrance my dim thoughts were merged,

And silently I drowned in the translucent,

Light-weaving ocean and left life behind me.‹

Ein seltsamer Zauber stieg aus diesen Versen auf, wie ein Echo aus tiefer, ureigener Erinnerung. Der entsetzte Aufschrei einer Frauenstimme holte sie ins gegenwärtige Leben zurück. Schnell faltete sie das Blatt zusammen und schob es in die Manteltasche. Im nächsten Augenblick sammelte sie weiße Blätter vom Rasen. Sie bekam immer nur wenige zu fassen, bevor der nächste Windstoß sie mutwillig neu verteilte. Doch schließlich stand sie mit einem Stoß Papier vor einer atemlosen Frau mittleren Alters, deren kurze Haare der Wind fast pfiffig durcheinandergebracht hatte; diese hielt etliche Bögen Papier fest in ihren Händen.

»Danke, Madam, vielen Dank! So etwas ist mir noch nie passiert. Der erste schöne Tag. Da habe ich den Briefbeschwerer vergessen. Gott sei Dank sind die meisten Papiere nur oben durchs Zimmer geflogen.

Mit einem hastigen Blick in die Runde eilte die Frau wieder ins Haus, den vollständigen Papierstoß an sich gepresst.

Olivia lachte leise, und von einer erneuten Böe fast über die nächste Pfütze gehoben, ließ sie sich vom Wind durch den Torbogen aus Lincoln’s Inn hinaus wehen, hinein nach London.

Kapitel 2

Es war März. Noch wurde es bei Zeiten dämmerig und kühl. Ein Feuer knisterte im Kamin und leiser Teeduft durchzog den Raum. Olivia hatte den Hauptteil des Tages in der London Library verbracht, auf dem Nachhauseweg einige Einkäufe erledigt und auf den letzten Metern vom Bus, die an einer Gärtnerei vorbeiführten, einen Strauß leuchtend gelber Osterglocken gekauft.

Sie lebte in Fulham, nah am Fluss, wo vor hundert Jahren noch kleine Werften und Obstplantagen in ländlichem Miteinander gediehen waren, in einer jener ruhigen Straßen mit der ebenmäßigen Abfolge gleicher Doppelhäuser, die in vielen Stadtteilen Londons zu finden sind. Ihre Großeltern hatten ihr dieses Haus hinterlassen, in der alten Schreinerwerkstatt stand heute ihr Auto und der Apfelbaum hinten im Garten war zusammen mit dem Apfelbaum jenseits der Mauer im Nachbargarten der letzte Zeuge des Obst- und Gemüsefarmlandes ihres Urgroßvaters.

Jetzt saß sie mitten im Wohnzimmer am Boden, die Beine unter ihren sehr weiten, langen Rock gezogen, in einer Flut aufgeschlagener Zeitungsseiten. Todesanzeigen waren auf all diesen Seiten abgedruckt, die meisten englische, rechts neben ihr einige deutsche und österreichische, unterschieden durch ein völlig anderes Layout.

Es klopfte und auf Olivias Ruf hin öffnete Leonard die Tür. Groß, fast hager steckte er in einer alten blauen Cordhose und dem großen irischen Fischerpullover, den er fast den ganzen Winter über zu Hause trug. Sein Gesicht, ebenfalls hager, zeigte erste Ansätze jener Gelehrtenköpfe, die für England und vielleicht für Österreich so charakteristisch sind.

»Schau!« , sie blitzte zu ihm hinauf, »jetzt kannst du selbst sehen, wovon ich neulich sprach: Die Engländer informieren ihre Mitwelt in äußerst kleingedruckten Nachrichten über das Ableben ihrer Angehörigen. In alphabetischer Reihenfolge und in Variationen eines immer gleichen Textes erfahre ich vom Tode von Ehegatten oder Großmüttern – hundert oder erst sechsundfünfzig Jahre alt, gestorben in einem Dorf in Kent oder in Zimbabwe, Handwerker, Professor oder der 20. Baron von irgendwas. Es ist ein für die englische Klassengesellschaft ganz ungewöhnlich demokratisches Verfahren.«

»Tod ist außerordentlich demokratisch.«

»Halte diese Seite einer deutschen Zeitung daneben«, fuhr Olivia fort, »in schwarzgerahmten Feldern unterschiedlichster Größe, mit oder ohne Kreuz, häufig mit einem Bibelzitat, teilt man mit, ob der Genannte unerwartet, nach einem Unfall oder schwerer Krankheit verstorben ist, ob mit oder ohne Sterbesakramente, welchen Beruf er ausgeübt hat, von der Gefasstheit oder Verzweiflung seiner Angehörigen. Hier haben wir es mit einer ungemein persönlichen Theatralik zu tun. Besonders umfangreiche Texte klingen wie ein ferner Nachhall alter Mysterienspiele.«

Leonard trat behutsam in den Raum, dennoch stieß ihn eine Zeitung in den Arm. Sie war auf dem Schirm der Bodenlampe abgelegt. Er nahm sie in die Hand: Todesanzeigen einer Tiroler Tageszeitung.

»Sieh«, machte Olivia ihn aufmerksam, »der Leser erfährt dort ungefähr das gleiche wie in den deutschen Zeitungen, doch in gleich großen, ziemlich gleichgestalteten schwarzgerahmten Feldern, auch die verschiedenen Texte liegen näher beieinander als in den deutschen Zeitungen; dafür bringt jede Anzeige ein Photo des Verstorbenen. Diese unterschiedlichen Traditionen europäischer Nachbarn zeigen die unbeachteten Abgrenzungen und die gewachsene Vielfalt in dem dichten Nebeneinander. In meinem nächsten Essay für die ›Süddeutsche Zeitung‹ werde ich mich endlich einmal damit befassen.«

Sie zog ihre Füße eng an den Körper, setzte sie sorgfältig auf, um in keiner Rockfalte hängen zu bleiben und sprang wie eine losgeschnellte Feder in die Höhe. Auf Zehenspitzen stieg sie anschließend über die Zeitungen zu Leonard. Als er sie eine Weile später aus seinen Armen entließ und sie zu ihrem Platz am Kamin stelzte, entdeckte Leonard etwas ratlos, dass er den ›Tiroler Anzeiger‹ noch immer in der Hand hielt. Ratlos blickte er um sich und legte die Zeitung schließlich mangels Alternative auf den Lampenschirm zurück.

Sein Blick wanderte weiter neugierig durch den Raum: »Warum brauchst du diese Unmenge Londoner Zeitungen? Die Todesanzeigen sehen doch in allen gleich aus. Ich glaube fast, es sind alle Zeitungen, die neben dem Hauseingang lagen und das sind immerhin mehrere Tageszeitungen von fast einem Monat.«

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