»Nein, es ist kein Stein. Das Material ist indianisch. Die Tolteken fanden heraus, dass mit Wasser angerührter sehr feiner Kalk, also Gips, über längere Zeit in einer Art Schwebezustand gehalten werden kann, wenn man eine Lösung aus pflanzlichem Gummi hinzugibt. Auf diese Weise sind feinste Arbeiten möglich. Nach der vollständigen Erstarrung kann dieses Material so glatt poliert werden wie Marmor und ist nach dem Trocknen so hart wie Stein. Mein Lehrer Onetti experimentierte darüberhinaus mit pflanzlichen Farbstoffen, die ihm schließlich erlaubten, Figuren in den verschiedensten Farben zu arbeiten. Der einzige Nachteil dieser Technik ist, dass Feuchtigkeit schadet. In den Garten sollte man solche Skulpturen nicht stellen, vielleicht auch nicht ins Badezimmer.«
»Haben Sie ebenfalls damit gearbeitet?«
»Oh ja. Das Material ist sehr angenehm, vor allem, weil es nicht so viel physische Kraft verlangt; es ist relativ preiswert und bringt die Möglichkeit der Farben hinzu. Kommen Sie, in meinem Schlafzimmer stehen ein paar Arbeiten daraus. Ich zeige sie Ihnen.«
Am Fuß der Speichertreppe stand Olivia wieder vor den olmekischen Figuren. Rechts neben ihr öffnete Lady Gaynesford die Tür zu einem großzügigen hellen Raum. Die der Tür gegenüberliegende Wand bestand hauptsächlich aus Fenstern, die Wände waren weiß und die alten Dielenbretter mit einem Teppich in stillem tiefdunklem Grün belegt. Darauf und auf kleinen Tischen und hochbeinigen Blumenständern standen inmitten einer Fülle verschiedener Grünpflanzen Skulpturen von unterschiedlichster Größe und Farbe. Sie alle stellten menschliche Figuren dar. Es war eine Art Parklandschaft, die vor der gesamten Fensterfront ausgebreitet in einem Bogen zur Badezimmertür links hin ausschwang. Begeistert blieb Olivia eine Weile stehen und schaute, bis sie weiter in den Raum hineintrat. Lady Gaynesford erläuterte einzelne Figuren, erzählte von ihrer Entstehung oder sprach von Vorbildern. Sie unterhielten sich über Figuren und Menschen. Und sie sprachen über Pflanzen, über die Herkunftsländer vieler heute in England und überhaupt in Europa als Zimmerpflanzen bekannter Palmen, von denen es in diesem Raum etliche gab. Direkt vor dem Fenster standen einige ursprünglich mexikanische Kakteen, ein gewaltiger ebenfalls mexikanischer Flaschenbaum bildete mit der aufspringenden Figur neben sich eine überzeugende Einheit. Dazu gruppierten sich Farne, einheimische, japanische und zwei australische Baumfarne, von denen einer allerdings abgestorben zu sein schien. Lady Gaynesford blieb vor ihm stehen und strich ratlos über die verwelkten Blätter.
»Vor zwei Tagen war er noch so frisch wie alle Pflanzen hier, das heißt am Morgen, als ich ihn goss. Ich gieße jeden Morgen das restliche Wasser aus der Karaffe, die nachts auf meinem Nachtkasten steht, an eine der Pflanzen. Nun, wie gesagt, als ich das tat, war der Baumfarn noch wunderschön, am Abend sah er so aus wie jetzt.«
Es klopfte. Mrs Jonas meldete, dass sie ein Telefonat zu Myladys Schreibtisch durchgestellt habe und Olivia war überraschend allein. Nah an einer der Palmen stehend atmete sie die Frische des Grüns ein. Sie sah auf die glänzenden Blätter und blieb an einem Wasserzerstäuber hängen, skeptisch betrachtete sie den abgestorbenen Farn. ›In the dark valley’s silver-grey fragrance my dim thoughts…‹ Die Todesanzeige schob sich in ihre Gedanken. Einem Impuls folgend nahm sie ihre Puderdose aus der Handtasche, füllte soviel Erde als möglich hinein, beseitigte die Spuren und eilte zur Gästetoilette im Erdgeschoss, um sich gründlich die Hände zu waschen. Als Lady Gaynesford zu ihr zurückkehrte, betrachtete sie wieder den aufmerksam witternden Jaguar im Garten.
»Lassen Sie uns hinausgehen, meine Liebe!« Lady Gaynesford schritt, jetzt mit einem Stock in der Hand, voran. »Dieser Jaguar, der des Morgens, ist aus grünem, besonders grünem Horton-Stein gearbeitet, der sich außerordentlich glatt polieren ließ. Ich liebe die Lichtreflexe auf den spiegelnden Flächen. Der Jaguar des Abends drüben ist aus schwarzem Marmor, der wiederum andere Wirkungen des Lichtes erzeugt.«
Langsam schlenderten sie durch den Garten, sorgfältig zwischen den späten Krokusfeldern hindurch und an einem Teppich blauer Zilla entlang, der nah an der Mauer blühte.
»Im übrigen gehörte das Telefonat, das ich gerade führte, zum Thema dieses Vormittags. Kennen Sie die Zeitschrift ›Arts and Artists‹?« Olivia nickte.
»Dann wissen Sie, dass den Hauptteil eines jeden Heftes eine Künstlermonographie ausmacht, sechzig bis siebzig Seiten mit Photos. Die Redaktion trat vor einigen Monaten in diesem Zusammenhang an mich heran; eine sowohl ehrenvolle wie auch heikle Angelegenheit. Denn die Wahl des Autors der Monographie liegt jeweils beim betreffenden Künstler.« Lady Gaynesford blieb stehen und sah Olivia an. »Ich denke, ein guter Stern hat Sie zu mir geführt und so möchte ich Sie bitten, diese Arbeit zu übernehmen. Wenn es Ihnen nicht allzu unmöglich vorkommt, könnten Sie hier im Haus wohnen und hätten eine Sammlung meiner Figuren, derer von Onetti und einige der alten Olmeken unter Ihrem Dach versammelt. Dazu kommt das Archiv meiner Papiere und all unsere Bücher, die Ihnen eventuell nützlich sein würden. Selbstverständlich stehe ich Ihnen für Fragen und Gespräche zur Verfügung. Bitte denken Sie in Ruhe darüber nach – es würde mich sehr freuen!« schloss sie nachdrücklich.
Wie Olivia später zu Leonard sagte, hätte sie sich wohl auch für die Olympischen Spiele beworben, so vollkommen überzeugt habe sich Lady Gaynesford von ihren Fähigkeiten gezeigt. Am Donnerstag war sie sehr früh aufgestanden, um ihren Artikel über die Bildhauerin Victoria Gaynesford für die Süddeutsche zu schreiben und sich wieder dabei zuzuschauen, wie tief beeindruckt sie von der Persönlichkeit »ihrer« Lady war. Nachdem sie den Text am Nachmittag nach München gefaxt hatte, holte sie sich einen Stoß ausgewählter Nummern von ›Arts and Artists‹ und einige Standardwerke über die Geschichte der Skulptur aus der Bibliothek. Es war die Zeit des ersten Büroschlusses und um sie herum wirbelten befreite, müde oder zielstrebige Menschen. Je mehr sie sich Piccadilly Circus näherte, desto geordneter wurde die Richtung all dieser eiligen Bewegungen. Die Menschen strömten an ihr vorbei in die eine oder die entgegengesetzte Richtung. Mit ihren schweren Büchertaschen war Olivia relativ langsam. Doch sie fühlte sich wohl, wenn sie von der Lebendigkeit Londons umgeben war. Heute dachte sie zum ersten Mal, dass diese Lebendigkeit auch Sicherheit bedeutete. Was immer ihr in diesem Augenblick an Missgeschick zustoßen würde, es fände sich ein Mensch, der ihr weiterhelfen würde.
»Sicherheit«. Olivia sah von dem Artikel über Barbara Hepworth in ›Arts and Artists‹ auf und ihre braunen Augen schweiften hinaus in den Garten, auf die Sitzgruppe am Kamin und über ihre Bücherregale. Im Geiste ging sie die Gartenmauer entlang und wurde sich der Geborgenheit ihres Lebensraumes auf neue Weise bewusst. Das Anwesen von Greystone Manor war ebenfalls von einer Mauer umgeben, einer viel höheren und das Leben innerhalb war vollständig eingehegt. Sie lachte. Das klang ja fast, als lebte sie im Mittelalter und müsste Leben und Besitz vor streunenden Räuberbanden und entlassenen Soldaten sichern. Und doch konnte sie eine leise Unruhe nicht mehr unterdrücken, auch wenn sie sich deswegen eine Phantastin schalt. Ursache dafür war, dass sie gestern auf dem Rückweg von Buckinghamshire die Puderdose mit der Erde aus Lady Gaynesfords Schlafzimmer zu ihrem Freund Richard Bates gebracht hatte, wohl wissend, dass sie es gleich tun musste, bereits nach dem Abendessen wäre sie sich viel zu albern vorgekommen. Und nun war der folgende Abend so weit vorgerückt, dass er ihr auf seinem Heimweg das Ergebnis der chemischen Analyse vorbeibringen könnte. Er hätte natürlich auch unter Tags einfach anrufen und durchgeben können: »Liebe Freundin, bei einem so hohen Anteil an Guano in der Erde muss eine Pflanze einfach eingehen.« oder etwas in der Art. Oder er hatte so viel Arbeit, dass er es einfach vergessen hatte, oder… oder… oder. Olivia seufzte. Wenn sie auf etwas zu warten begann, produzierte sie endlose Oder-Möglichkeiten statt einfach weiter zu arbeiten, zumal sie in diesem Fall ganz genau wusste, dass Richard kommen würde.
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