»Es wäre das Ende meiner Beziehung zu ihr.«
»Sehr wahrscheinlich. Die Menschen gehen selten den einfachsten Weg.«
»Das wäre allerdings auch die Folge, wenn die Polizei mit ihrem Verdacht auftaucht.«
»Vermutlich, aber wissen kann man es nicht. Die Gefahr erscheint dann so wirklich, dass auch andere Reaktionen möglich sind. Aber, wie gesagt, das Auftauchen meines Kollegen wird meiner Erfahrung nach ein paar Tage dauern. Ich werde versuchen, die Sache dringlich darzustellen, selbstverständlich! Aber erst einmal könntest du in den Apfelbaum sozusagen, um das Wasser auszutauschen und Informationen zu sammeln und ich werde abwechslungshalber unten warten.«
»Das ist kein Spiel mehr, Richard!«
»Nein, natürlich nicht. Trotzdem wäre es das Beste, du würdest das Ganze sportlich angehen. Allzu viel emotionales Engagement trübt den klaren Blick.«
»Hör auf!«
»Zwei Fragen scheinen mir zwingend,« schaltete Leonard sich ruhig und bestimmt ein. »Die eine ist die nach der Verantwortung. Du bist durch die Verkettung einiger Zufälle einem möglichen Mordanschlag auf die Spur gekommen. Aber verpflichtet dich das, der Sache selbst weiter nachzugehen? Die zweite lautet: Hast du überhaupt realistische Möglichkeiten, etwas Sinnvolles zum Schutz von Lady Gaynesford zu tun? Der Gast, der sich allabendlich ins Schlafzimmer der Hausherrin schleicht… Du kannst dich kaum wirkungsvoller selbst in Verdacht bringen.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Olivia sah Leonard ernst an. Schließlich antwortete sie nachdenklich: »Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass uns die gelben Blätter des Baumfarnes von einem Mordversuch erzählen. Wir kennen das Opfer und ich fühle mich ihm persönlich sehr nahe, auch wenn ich es erst äußerst kurz kenne. Die Polizei erklärt sich für hilfsbereit, aber überarbeitet. Damit bleibe ich die einzige, die umgehend handeln kann, wie immer das konkret aussehen mag. Siehst du das bis hierher auch so?«
Leonard nickte zögernd. »Vielleicht, wenn auch sehr ungern. Denn wo ein Opfer ist, ist auch ein Täter und wir müssen unterstellen, dass er weitere Versuche unternimmt. Wenn du nun Lady Gaynesford zu schützen versuchst, musst du ihm unweigerlich in die Quere kommen und damit beginnt die Affäre auch für dich gefährlich zu werden – als Opfer oder als Täter, wenn der eigentliche Täter es geschickt anstellt. Ich wiederhole mich gerade, aber es mir sehr ernst.«
»Vielleicht kann ich mich ausreichend tarnen. Immerhin habe ich den Auftrag für ›Arts and Artists‹.«
»Dieser Auftrag ist Gold wert,« behauptete Richard sofort, »weil er deine Rückkehr nach Greystone Manor fast so selbstverständlich erscheinen lässt, wie das regelmäßige Auftauchen des Postboten. Du müsstest zu erreichen versuchen, umgehend einige Tage dort zu wohnen. So haben wir eine Chance, trotz Personalmangel schneller zu sein. In dieser Zeit wäre meine Bitte an dich, alle Personen, die sich auf dem Gelände bewegen, aufzulisten, am besten auch den Milchmann und die Putzfrau. Schau ihnen bei ihrer Arbeit zu und stelle die Möglichkeiten fest, die sich daraus für ihre Bewegungsfreiheit auf dem Grund und im Haus ergeben. Finde so viel wie möglich über die Beziehungen aller Personen untereinander heraus. Wenn handfeste Fakten auftauchen, rutscht der Fall auf der Prioritätenliste nach vorn. Normalerweise bleiben Täter am Ball, wenn sie erst einmal entschlossen sind. Die Aussichten, dass wir sie oder ihn auf diese Weise in den Blick bekommen, stehen recht gut.«
»Und noch eins,« sprach Richard nach kurzem Innehalten weiter, »Täter halten erfahrungsgemäß an der einmal gewählten Mordmethode fest. Und natürlich wollen sie nicht entdeckt werden. Nach den sparsamen Fakten zu urteilen, hofft unsere Frau oder unser Mann, Lady Gaynesfords Ableben als natürliches Ereignis erscheinen zu lassen. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Es erscheint mir äußerst unwahrscheinlich, dass sich das Gift im allgemeinen Essen oder den allgemein ausgeschenkten Getränken befindet, weil es dann mehr Menschen treffen könnte und der Mordfall offenkundig würde. Also bist du so lange leidlich sicher, Olivia, als du nur isst, was alle essen, und nur trinkst, was aus einem Gefäß allen Anwesenden eingeschenkt wird. Darüber hinaus solltest du dich an Leitungswasser und selbstmitgebrachte Schokolade oder ähnliches als eiserne Reserve halten.«
Richards sachlicher Zuspruch vergrößerte vor Olivias Augen eher das Bewusstsein für die Gefahr, die die merkwürdige Situation im Hause der Lady Gaynesford mit sich bringen würde, als dass er sie beruhigte. Mit einem physisch spürbaren Druck auf Schultern und Nacken stand sie auf und ging zur Terrassentür hinüber. Den Mond konnte sie nicht sehen, wohl aber goss sein fahles Licht einen grauen Schleier über ihren Garten und die Schatten der Buchsbaumhecken lagen schwarz in der Nacht. Sie sah den über den Himmel rasenden Wolkenfetzen zu, deren scheinbar absolute Freiheit sie schon als Kind gemocht hatte. So stand sie eine lange Weile, manchmal drangen die Stimmen von Leonard oder Richard an ihr Ohr, aber sie achtete nicht darauf. Schließlich straffte sich ihre Gestalt und schien es den fliegenden Wolken gleichzutun, indem sie sich in einem fast schwerelosen Wirbel anderthalbmal um sich selbst drehte. Ihr weiter Rock brachte die großen Zimmerpflanzen zum Rauschen. Leise schalkhaft deutete sie eine Verbeugung vor den Freunden an: »Bringt mich zur Stell’, und gibt es so das Glück, so spiel ich eine Roll’ in ihrem Stück.«
Sie setzte sich wieder zu den anderen, trotz der späten Stunde tatendurstig und heiter. »Ich werde es machen. Morgen rufe ich in Greystone Manor an und wenn Lady Gaynesford noch lebt,« sie holte kurz Luft, »werde ich spätestens am Nachmittag dort sein – aber, Richard, ich lasse mich auf dieses seltsame Abenteuer nicht ein, um einen Mörder zu finden, sondern um irgendeine Person X daran zu hindern, einer zu werden; das ausersehene Opfer zu retten, ist der todernste Sinn. Dadurch, dass ich den ganzen Tag im Haus sein werde, bedeute ich eine neue Schwierigkeit für die betreffende Person, unbemerkt zu bleiben. Dadurch, dass ich mit anderen Dingen intensiv beschäftigt sein werde und außerdem von nichts im Haus eine Ahnung habe, ist sie vielleicht im Hinblick auf mich nicht allzu vorsichtig, aber nur vielleicht. Schließlich kann ich versuchen, das Wasser in der Karaffe unmittelbar vor dem Schlafengehen zu wechseln; was schwierig genug sein dürfte, wenn ich mich nicht verraten will. Doch das reicht nicht, Lady Gaynesford wirklich zu schützen. Was weiter?«
Richards graue Zellen waren auf Spurensicherung und Schlussfolgern getrimmt, kündigte doch ein Mörder seine Tat für gewöhnlich nicht an. Er brauchte zu dieser späten Stunde eine Weile, bis er im vorliegenden Problem das Muster des auf frischer Tat zu stellenden Verbrechers wiedererkannte. Erleichtert machte er sich daran, seiner alten Freundin Hilfestellungen zu geben. Die drei berieten bis tief in die Nacht.
Olivia schlenderte durch den Garten von Greystone Manor. Sie trug einen tiefvioletten, extrem langen Pullover zu schmalen Hosen in der gleichen Farbe, die sie sehr schmal und groß erscheinen ließen, in Wahrheit erreichte sie wenig mehr als ein Meter sechzig. Diese hundertdreiundsechzig Zentimeter allerdings waren außerordentlich gut durchtrainiert, sie hatte in Salzburg eine gründliche Ausbildung in klassischem Ballett absolviert und sich die damit verbundene vollständige Kontrolle über ihren Körper durch fortgesetztes Training erhalten, auch als sie den Traum von der Primaballerina aufgeben musste: ›Anlagenbedingte Verkürzung der Achillessehne‹ lautete damals die sachliche Erklärung des Arztes zu ihren wachsenden Schmerzen beim Training. Nach bitterem Kampf hatte sie sich von ihrem Jugendtraum abgewandt und schließlich in der Literatur eine andere mächtige Faszination gefunden. Den Blickfang ihrer gegenwärtigen Kleidung bildete ein weiter, in vielen Falten liegender Rollkragen, der ihr Gesicht umrahmte. Sie steht in unserem Garten wie eine Plastik von Mylady, überlegte Dorothy, die Wirtschafterin, die gerade im ersten Stock abstaubte.
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