Es entstand eine kleine Pause. Olivia sah, dass sie mit Hilfe von Dickens die Sympathie des Pfarrers gewann und dass die Entrüstung seiner Frau wachsender Freundlichkeit Platz zu machen begann. Lady Gaynesford lehnte, beide Hände um ihre Teetasse geschlossen, ruhig da und schaute sie darüber hinweg an.
»Mein Vater war Engländer, meine Mutter Österreicherin,« holte Olivia ein wenig aus. »Meine ersten Lebensjahre habe ich in London verbracht, in Salzburg ging ich dann zur Schule, war aber jedes Jahr im Sommer und zu Weihnachten wieder in London. Dadurch fiel mir sehr früh auf, dass österreichische Kinder manches anders machten, andere Spiele spielten und andere Bücher lasen als meine englischen Freunde. Das war spannend. Und bis heute haben die kleinen Unterschiede ihren Reiz für mich behalten. Ich lebe nun schon wieder viele Jahre in London, besuche aber weiterhin regelmäßig Österreich. In den ›Londoner Skizzen‹ berichte ich von englischen Alltäglichkeiten im weitesten Sinne, die es so in Österreich oder Deutschland nicht gibt. Halloween ist ein populäres Beispiel.«
Mr Wotheridge nahm dieses Thema mit ganz persönlicher Anteilnahme auf und bald waren alle in angenehmen Austausch über englische Eigenheiten vertieft. Tee wurde nachgegossen und die eine oder andere Lampe angezündet. Hin und wieder knackte es leise im Kamin.
Olivia saß an ihrem Schreibtisch, nun schon seit Stunden. Sie sichtete das Material, das sie in Bibliotheken und Archiven über Lady Gaynesford zusammengetragen hatte. Es war für sie ein Akt des Respektes, auf der Basis der allgemein zugänglichen Informationen neue Fragen für ihr Interview zu finden. Sie hatte sich mit einem festen Gesprächstermin von der alten Dame verabschiedet. Doch dieses Mal schien alles auf dem Kopf zu stehen. Der erste Kontakt zu Lady Gaynesford hatte die Fremdheit mit einem Satz übersprungen. In der Folge schien es ihr, als würde sie hinter dem Rücken eines Freundes all das herauszufinden versuchen, was er ihr freiwillig nicht erzählte. Das war blanker Unsinn. Es wäre eine grandiose Unhöflichkeit gewesen, so ahnungslos zurückzukehren wie sie gegangen war. Möglicherweise lag das Problem in der Todesanzeige: Sie wusste etwas, wovon sie eigentlich unmöglich wissen konnte und worüber zu sprechen völlig ausgeschlossen war. Wiederum wäre es das Beste, dies Blatt Papier einfach zu vergessen. Stattdessen kreiste es wie eine fixe Idee in ihrem Kopf: Von Lebenden existieren normalerweise keine Todesanzeigen. Also war ihr eine Information zugeweht worden, die nicht einfach in den Papierkorb gehörte. Fatalerweise hatte sich dieser die ergänzende Information hinzugesellt, dass Lady Gaynesford im letzten Spätherbst eine schwere Herzoperation überstanden hatte, deren Erfolg einige Tage durchaus offen geblieben war. Das war in dem leichten Geplauder mit dem Ehepaar Wotheridge herausgekommen, während sie vom Tee bei Lady Gaynesford gemeinsam zurück ins Dorf fuhren.
Olivia schüttelte den Kopf. Auch wenn sie die britische Begeisterung für Kriminalfälle in keiner Weise teilte, gefiel es ihr gelegentlich, Sherlock Holmes oder Miss Marple zuzuschauen. Beide würden dieses irritierende Papier so lange beiseite legen, bis ein konkreter Umstand sie veranlassen mochte, es wieder zu beachten. Na also. Sie schaute in ihren Garten. Die Büsche warfen lange Schatten, doch noch war es hell genug. Rasch ordnete sie das Material auf dem Schreibtisch, legte das Blatt mit den Fragen für das Interview zuoberst und beugte sich wenig später über ihre Rosen. Während sie das alte Holz ausschnitt und jeder einzelnen Pflanze ihre Anfangsform für den neuen Sommer gab, war ihre Konzentration vollständig gefangen.
Die Nacht über hatte es geregnet, jetzt war der Himmel wolkenfrei und sehr hoch. Als Olivia in die schmalen heckengesäumten Straßen um Copper Hill eintauchte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und rollte friedlich dahin. Sie roch die frische Erde, freute sich an Huflattich, Primeln und den ersten Veilchen, die ihr in diesen tiefeingesunkenen alten Wegen fast auf Augenhöhe entgegenwuchsen, und an den Schatten der Vögel, die durch die Hecken oberhalb der kleinen Blumen huschten. Sie kam durchs Dorf, an der Kirche und dem Gemeinedesaal vorbei. Als sie auf der anderen Seite wieder zwischen den Hecken versank, tauchte sehr bald die Einfahrt von Greystone Manor auf. Sie parkte ihren alten Saab so weit von den Wirtschaftsgebäuden entfernt wie möglich. Dort würde er hoffentlich niemanden stören. Entschlossen ging sie denselben Weg, den Lady Gaynesford sie geführt hatte. Schon kam ihr die Frau entgegen, die bei ihrem Besuch nach der Versteigerung den Tee serviert hatte. Sie stellte sich als Mrs Dorothy Jonas vor, die Wirtschafterin von Greystone Manor. Dorothy führte sie in denselben Wohnraum, in dem sie am Samstag gesessen hatte. Olivia ging zur Terrassentür und sah hinaus auf den sitzenden Jaguar. Da war er; noch in Ruhe, doch an seiner Kraft bestand kein Zweifel.
Lady Gaynesford trug heute ein dunkelgrünes Kleid mit silbergrauem Schal. Heiter betrat sie den Raum, umschloss mit beiden Händen Olivias Rechte und sah sie für einen konzentrierten Augenblick sehr genau an. Offensichtlich einverstanden setzte sie sich, diesmal in einen Sessel an der Glastür, und läutete.
»Ich möchte Ihnen zur Begrüßung eine heiße Schokolade anbieten so wie ich sie gern trinke.«
Die Tassen, die Dorothy hereinbrachte, gehörten zu den dampfenden Geistern, nur war dieses Mal die Grundfarbe ein leuchtendes Dunkelblau. Alles vollzog sich ruhig und zügig wie beim ersten Mal: Dorothy stellte Tischchen neben die Sessel, eine Schale mit Ingwergebäck in erreichbare Nähe und goss das heiße Getränk in die Tassen. Ein über die Massen verlockender Duft nach Zartbitterschokolade mit einem Hauch Vanille stieg davon auf.
»Schon die Azteken tranken Kakao, sie genossen ihn kalt und süßten mit Vanille,« erzählte Lady Gaynesford, die heiße Tasse zwischen den Händen haltend. »Meine Kinderfrau in Belize, sie gehörte zu den Maya, nicht zu den Azteken natürlich, brachte mir jeden morgen eine Tasse dieses gewürzten Kakaos ans Bett. Sie war der Überzeugung, nur so gestärkt könne ich in den neuen Tag starten. Auch als ich schon fast erwachsen war – mit achtzehn Jahren fühlt man sich erwachsen, nicht wahr – behielt sie ihre Gewohnheit, und ihre Überzeugung, bei. In Mexiko trank ich dann kaum je Kakao. Erst als ich in dieses Haus in England kam und Mittelamerika weit entfernt lag, nahm ich die Gewohnheit meiner Kindertage wieder auf. Zwar beginnt mein Tag seither mit einer Tasse Tee; am späten Vormittag aber mache ich regelmäßig eine Pause und trinke meinen indianischen Kakao. Das Pulver kommt übrigens wirklich aus Mexiko und nicht aus Afrika wie heute der meiste Kakao.«
Olivia hatte zuhörend vorsichtig probiert und was sie trank, war überraschend weich und mild auf der Zunge, wiewohl weniger süß als der ihr vertraute Geschmack. Es war gut.
»Ich wusste, dass es hier jetzt heiße Schokolade gibt! Liebe Tante, du verzeihst mein frühes Eindringen und spendierst mir eine Tasse?«
Ein junger Mann, in makelloses Beige von sportlich-elegantem Zuschnitt gekleidet, beugte sich über Lady Gaynesford und begrüßte sie mit einem Kuss. Lächelnd erwiderte sie seine Begrüßung, hieß ihn nach einer weiteren Tasse läuten und sich setzen. Daraufhin wandte sie sich an Olivia.
»Darf ich Ihnen meinen Neffen David Gaynesford vorstellen.« David schaffte gerade noch, sich formvollendet zu verbeugen, bevor er in einen Sessel sank.
»Und mein Gast, David, ist Miss Lawrence. Sie wird für eine deutsche Zeitung einen Artikel über mich schreiben.«
Während sie weiter heiße Schokolade und Ingwergebäck zu sich nahmen, fuhr Lady Gaynesford mit einem Anflug von Stolz fort: »David studiert Archäologie. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit ägyptischer Kleinplastik und den durch sie überlieferten Verrichtungen des täglichen Lebens; was mich zu der Frage veranlasst,« damit wandte sie sich wieder ihrem Neffen zu, »warum du hier und nicht in London bist?«
Читать дальше