Er war einer ihrer ältesten Freunde und gehörte zu den Menschen, auf die man sich bedingungslos verlassen konnte. Seine Eltern wohnten im Nachbarhaus. Das hatten sie schon vor mehr als dreißig Jahren getan. Als Richard und sie Kinder gewesen waren, besuchten sie sich gegenseitig, indem sie von einem Apfelbaum über die Mauer in den anderen kletterten. Sie bestanden gemeinsame Abenteuer in den Gärten der weiteren Nachbarn und dehnten später ihren Forscherdrang bis ans Themse-Ufer aus. Immer hatte Richard sie erwartet, wenn sie im Sommer und zu Weihnachten aus Salzburg zu ihren Großeltern kam, und sie hatten Stunden in den Apfelbäumen gesessen, weil Olivia alles, einfach alles wissen wollte, was während ihrer Abwesenheit geschehen war. Richard behauptete später, er sei nur deshalb zu Scotland Yard gegangen, weil er seine Jugend damit verbracht hätte, um Olivias Wissensdurstes willen seine Nachbarn noch bei ihren geheimsten Tätigkeiten zu beobachten. Nun wohnte sie seit etlichen Jahren ganz hier in Fulham. Bald nach ihrer Rückkehr hatte Richard in der nächsten Querstraße ein Haus gekauft. Sein Grundstück und das seiner Eltern und somit auch das von Olivia gehörten zum selben Grünquadrat auf dem Stadtplan. Richard war verheiratet und Olivia die Patin seiner ersten Tochter. Da sie sich auch mit Richards Frau Fiona gut verstand, lebten sie ein vergnügtes Hin und Her zwischen Häusern und Gärten und interessierten sich für ihre Nachbarn nicht mehr, als das normal war. Manchmal kam Richard, um mit Olivia über ein Problem wie in Jugendtagen zu knobeln; der alte Unernst hatte manchen Fall befördert. Richard war inzwischen Chief Inspector in der Mordabteilung des Yard. So war es gestern Abend selbstverständlich gewesen, ihm die Erde fürs Labor zu bringen, auch wenn sie nie vorher etwas so ernsthaft Kriminalistisches getan hatte.
Als es gegen neun Uhr an der Haustür klopfte, hatte Olivia doch noch zwei Stunden konzentriert gearbeitet und stand entsprechend zufrieden vom Schreibtisch auf.
Es war Richard. Er deutete auf die Rotweinflasche in seiner Hand: »Ich hoffe, du hast ein wenig Zeit?« Auf Olivias einladende Handbewegung hin klopfte er seine Pfeife neben dem Buchsbaum aus und trat ins Haus.
Mit großer Selbstverständlichkeit steuerten sie auf den Kamin zu und während Olivia Gläser holte und ein Holzscheit nachlegte, überbrachte Richard die neuesten Nachrichten aus seiner Familie. Dann schwieg er und sah für einen Augenblick nachdenklich ins Feuer.
»Das Analyseergebnis deiner Blumenerde hat uns ein nettes Rätsel beschert.«
Olivia sah ihn neugierig an.
»Die Erde enthält eine erstaunliche Dosis Zyankali.«
Das war ein Paukenschlag. Olivia sah Lady Gaynesford mit der Karaffe vor sich, wie sie den Baumfarn goss. Was wäre gewesen, wenn sie in der Nacht aus dieser Karaffe getrunken hätte? Hätte ein halbes Glas dieses Wassers ausgereicht, sie zu töten? Laut hörte sie sich etwas töricht fragen: »Bringt Zyankali denn auch Pflanzen um?«
»Das weiß ich nicht. Seine Giftigkeit beruht in der Blockierung des Eisens. Beim Menschen wirkt sich das als erstes auf die Atmung aus. Die Folge ist bekannt. Bei Pflanzen ist Eisen unter anderem an der Bildung des Blattgrüns beteiligt. Wenn es durch zu viel Kalk im Boden gebunden wird, beispielsweise, bekommen die Pflanzen gelbe Blätter. Zyankali wirkt deiner Beschreibung nach zu urteilen, wesentlich durchschlagender als Kalk. Absterben muss die Pflanze deswegen noch nicht, wenn sie möglichst bald in neue Erde mit viel Torf umgesetzt wird. Und wenn man eventuell sauren Spezialdünger dazugibt, mag sie wohl wieder austreiben.«
»Hätten wenige Schlucke, also ein nicht mal halbvolles Glas dieses Wassers, bei einem Menschen tödlich gewirkt?«
»Was weißt du über dieses Wasser?«
Olivia erzählte ihm von Lady Gaynesfords Angewohnheit, eine Karaffe mit Wasser am Bett stehen zu haben, um einige Schlucke zu trinken, wenn sie nachts wach wurde, und morgens das restliche Wasser an eine ihrer Pflanzen zu gießen. Sie schätzte, dass die Karaffe vielleicht einen Liter Wasser fassen mochte, sicher stand sie aber nicht völlig gefüllt am Bett.
»Wenn ich annehme, dass Lady Gaynesford diesen dreiviertel Liter um die Pflanze herum gegossen hat und nicht auf eine einzige Stelle, die du dann prompt erwischt hast, reicht die Dosis, die ein halbes Glas enthalten mag, leicht aus.«
Es entstand eine Pause, bevor Richard fortfuhr: »Das heißt, wenn ich dich richtig verstanden habe, dass das Trinkwasser, das regelmäßig an ihrem Bett steht, in dieser Nacht um Zyankali bereichert war. Wir dürfen allerdings auf einen ersten Versuch in dieser Sache schließen, denn von anderen Pflanzen mit vergilbten Blättern war nicht die Rede.«
»Und das heißt, irgendjemand wollte die alte Dame ermorden?«
»Ein anderer Schluss ist kaum möglich.«
Entsetzt starrte Olivia Richard an: »Und nun?«
»Und nun was?« Leonard war nach Hause gekommen und Olivia hatte ihn tatsächlich überhört.
»Ja, das ist die Frage,« stimmte Richard zu.
»Was ist die Frage?«
»Was wir jetzt tun sollen.«
In komischer Verzweiflung blickte Leonard auf Olivia und dann auf Richard. Der begriff und fasste ihm die Fakten knapp zusammen, während Leonard an seinem Rotwein roch. Richard schaute wieder zu Olivia: »Ich verstehe nicht, wie du darauf kamst, eine Probe von dieser Erde zu nehmen. Du wirst das ja kaum bei jeder vergilbten Pflanze tun?«
Olivia versuchte zu lachen, aber es gelang nur schwach. »Da war dieser Duft nach Grün in der Luft, der das Wort ›fragrance‹ aus der Todesanzeige in mein Bewusstsein lockte, nehme ich an.« Sie räusperte sich: »Also – erstens ist da diese Todesanzeige, die ein seltsames Eigenleben entfaltet hat.« Sie erzählte ihm davon, immer noch ein wenig widerstrebend.
»Und zweitens liegt etwas in der Persönlichkeit von Lady Gaynesford, das mich bannt, ohne dass ich es erklären könnte.«
Sie hielt inne.
»Ich glaube, als ich meine alte Lady vor ihrer vergilbten Pflanze stehen sah, verbanden sich Punkt eins und zwei zu dem spontanen Eindruck, dass in der Absurdität einer großen Blattpflanze, die von jetzt auf gleich ihre grüne Farbe verliert, etwas aufschreit, dass zu dem ruhigen Hauswesen von Greystone Manor in wahrnehmbarer Spannung steht. Was ich dann tat, passierte, ohne dass ich recht eigentlich nachdachte.«
»Wie unvorsichtig das war, erkennt man leicht daran, dass wir durch die eine Antwort nun eine Fülle neuer Fragen haben – die sich immerhin konkret formulieren lassen. Das ist ein Fortschritt zu dem vagen Gefühl des Unbehagens, dass die Todesanzeige erzeugt hat. Soweit müsstest du ganz zufrieden sein,« sinnierte Leonard.
»›Zufrieden‹ ist ein seltsames Wort in diesem Zusammenhang,« widersprach Olivia, »das Problem ist, wie man Lady Gaynesford schützen kann!«
»Das ist im Augenblick ein echtes Problem!« bekannte Richard. »Wir haben in der Verbindung von unserer Analyse und deiner Aussage den Anfangsverdacht auf eine Straftat. Um es juristisch auszudrücken, wir haben den Anfangsverdacht auf einen versuchten Mord mit dem Mordmerkmal der Hinterlist.«
»Klingt in meinen Ohren ein wenig pompös. Und was sind die Konsequenzen?«
Richard nickte nachdenklich: »Ja, vielleicht… Nachdem ich jetzt klarer sehe, gebe ich das morgen in aller Frühe an die zuständige Polizeidienststelle in Buckinghamshire weiter; aber man muss kein Hellseher sein, um abzuschätzen, dass es sich den ein oder anderen Tag hinziehen kann, bis der Kollege vor Ort sich der Sache annimmt. Tatsächlich geschehene Verbrechen haben nun mal Vorrang und die Personaldecke der Kriminalpolizei ist beklagenswert dünn.«
»Verstehe. Bis dein Kollege auftaucht, müsste ich das Wasser auswechseln…«
»Du kannst Lady Gaynesford anrufen, vom Gift in ihrer Blumenerde erzählen und von deiner Schlussfolgerung, dass ihr jemand nach dem Leben trachtet. Das ist eine echte und einfache Möglichkeit. Wie, glaubst du, wird sie reagieren?«
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