Schnell schaute er sich weiter um. Wo war er? Zwanghaft versuchte Oliver sich zu orientieren und irgendeinen Punkt zu finden, der ihm bekannt vorkam. Panik machte sich in ihm breit. Er kam sich plötzlich völlig hilflos und verlassen vor. Nun wusste er nicht einmal mehr, aus welcher Richtung er gekommen war. Alles sah irgendwie gleich aus. In jeder Richtung waren nur dunkle, schwarze Bäume zu sehen. Der Nebel waberte zwischen ihnen hin und her, als hätte er ein Eigenleben, als würde er tanzen und sich heimlich über das Schicksal der Kinder freuen. Oliver wurde paranoid und spürte hinter jedem Baum eine Gefahr lauern. Er dachte unvermittelt zum ersten Mal an sein Handy und griff in seine Tasche, doch es war verschwunden. Einfach nicht mehr da. Er musste es bei der hastigen Flucht verloren haben. Es war alles zu spät.
Knack.
Was war das? Das ist genauso, wie in dem Film Freitag, der Dreizehnte , den ich zusammen mit Ben und Caroline gesehen habe, schoss es Oliver durch den Kopf. Panisch drehte er sich hin und her, doch er sah nichts, was das Geräusch hätte verursachen können. Er hatte sich so sehr gewünscht, ein Reh zu sehen. Nun kam wieder das erdrückende Gefühl in ihm auf, dass ihn jemand beobachtete. Doch er konnte niemanden entdecken. Aber er war sich sicher, da war jemand, etwas. Er wusste genau, dass in diesem Moment zwei Augenpaare auf ihm ruhten, die nur auf den richtigen Augenblick warteten. Die richtige Gelegenheit, um zuzuschlagen.
Es knackte erneut.
Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, die Kälte war komplett verschwunden. Hitze breitete sich in ihm aus. Ihm war nur noch heiß, und er wusste nicht mehr weiter.
Plötzlich kam ihm wieder Bens letztes Wort in den Sinn.
Lauf!
Ohne zu überlegen wohin, da es ohnehin zwecklos gewesen wäre, rannte er einfach los. Bloß nicht stehen bleiben. Was oder wer auch immer Ben verletzt hatte – na ja, mehr zerfetzt – er war jetzt hinter ihm her.
Obwohl er so schnell rannte, wie er konnte, wurde er das Gefühl nicht los, dass der Verfolger genau hinter ihm war. Ihn jagte. Er war jetzt seine Beute, und so schnell er auch rennen wollte, sein Verfolger würde immer einen Schritt schneller sein.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als alles zu geben, was in ihm steckte. Viel war das leider nicht. Er hasste Sport und liebte Süßigkeiten. Genauso sah er auch aus. Auch seine Ausdauer spiegelte genau das wieder. Immer öfter drehte er sich um, in der Hoffnung, einen Blick auf seinen Verfolger erhaschen zu können, aber er schaute jedes Mal ins Leere. Doch er war sich so sicher, dass er genau hinter ihm war. Er spürte ihn, doch wo war er?
Oliver hatte Angst, verrückt zu werden, einfach durchzudrehen. Immer wieder warf er einen Blick nach hintern und suchte jeden Winkel ab. Jedoch hätte er sich lieber darauf konzentrieren sollen, wohin er rannte. Durch die ständigen Blicke nach hinten vergaß er ganz und gar, nach vorne zu schauen. Als er wieder vor sich blickte, war es schon zu spät. Er sah nur noch etwas Schwarzes – dann klatschte es auch schon.
Rumms!
Oliver war ungebremst gegen einen großen, massiven Baum gerannt. Voll mit Adrenalin rappelte er sich schnell auf und wollte weiterrennen. Doch er torkelte nur noch orientierungslos umher. Fast so wie ein Zombie. Seine Stirn wurde nass, und er tastete danach. Bei dem Zusammenstoß hatte er sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen, und das Blut rann ihm ins Gesicht. So oft er auch mit seinem Ärmel wischte, es brachte nichts. Durch die Anstrengung war sein Blut in Wallung und pulsierte. Er spürte keinen Schmerz. Durch die Angst und das Adrenalin waren alle anderen Empfindungen ausgeschaltet.
Erneut wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen und verdeckte dadurch kurz die Sicht nach vorn. Dies wurde ihm zum Verhängnis. Er übersah eine kleine Grube, stolperte und fiel. Oliver spürte kurz stechende Schmerzen, gab einen wilden Schrei von sich und verlor dann das Bewusstsein.
Lindenberg, Sommer 2013
Der Albtraum
Lindenberg war eine Kleinstadt im Allgäu, in der noch Ruhe und Frieden herrschte. Jedenfalls mehr Ruhe als in anderen Städten. Zum Bodensee und nach Lindau waren es ein paar Kilometer. Die Allgäuer Alpen und das österreichische Vorarlberg lagen nur einen Katzensprung entfernt. In dieser Idylle wohnte das Ehepaar Müller. Ihr Haus stand am Rand der Stadt, in der Nähe des Waldes.
Der Wald und die Berge waren das reinste Paradies für Wanderer und Radfahrer. Viele Touristen kamen über das Jahr hinweg hierher, um zu entspannen. Die Stadt mit ihren Geschäften und kulturellen Angeboten stand der unberührten Natur gegenüber. Jeder Urlauber, der etwas Abwechslung brauchte, wurde mit Sicherheit nicht enttäuscht.
»Guten Morgen, Schatz«, begrüßte Daniel seine Frau Lara. Sie saß schon seit etwas mehr als zwei Stunden auf der Terrasse hinter dem kleinen Fachwerkhaus. Die Terrasse war mit roten Sandsteinen gepflastert worden und lag halbkreisförmig hinter dem Haus. Ein Holztisch mit vier Stühlen stand auf den roten Steinen, über denen eine cremefarbene Markise als Schattenspender angebracht war.
Lara hatte den Sonnenaufgang auf einem der Stühle sitzend beobachtet und dabei über ihr Leben nachgedacht. Sie fand es irgendwie langweilig. Nicht unbedingt langweilig im klassischen Sinne, dass sie nichts mit sich anzufangen wusste, sondern eher, dass ihr Leben ereignislos war.
Nachdem sie früh aufgewacht war und nicht mehr so recht einschlafen konnte, hatte sie ihren Mann Daniel alleine im Bett zurückgelassen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Daniel. Vorsichtig stellte er ein vollbeladenes Tablett vor ihr ab. Sie sah zu ihm auf und lächelte.
Das Ehepaar wirkte glücklich, jedenfalls sollte es glücklich sein bei ihrer Bilderbuchehe. Daniel konnte seine Frau Lara noch das ein oder andere Mal überraschen, und das nach dreizehn Jahren Ehe.
Doch Lara war unzufrieden, und das Schlimmste war, sie wusste nicht einmal genau warum, denn eigentlich gab es keinen Grund dazu.
»Ja, ich habe sehr gut geschlafen, nur zu kurz. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, konnte ich einfach nicht mehr einschlafen. Irgendwie habe ich so ein bedrückendes Gefühl. So, als wäre etwas nicht richtig. Oder als hätte ich etwas vergessen. Etwas Wichtiges.« Sie grübelte nach, dann hellte sich ihr Blick auf. »Vielleicht liegt es auch nur an der Hitze. Zuerst war es ewig kalt und nass, sodass man fast meinen könnte, der Sommer hat uns vergessen, und jetzt ist es so heiß, dass man fast umfällt.« Sie fasste sich in den Nacken und ertastete ihre schweißnasse Haut. »Komisches Wetter dieses Jahr. Wer weiß, wo das noch hinführt«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Mann. »Ist heute irgendetwas Besonderes?«, schob sie nach, als sie das Tablett begutachtete.
»Na ja, so besonders nicht, nur ein kleines Jubiläum«, gab Daniel zurück.
»Scheiße!«, rutschte es Lara heraus.
Daniel musste grinsen.
»Ich habe unseren Hochzeitstag vergessen, unseren dreizehnten. Dabei ist die Dreizehn doch meine Lieblingszahl.« Sie schaute betroffen. »Tut mir leid, Schatz. Du hast Frühstück rausgebracht, wahrscheinlich ein Geschenk in den herrlich angerichteten Sachen versteckt, und ich habe es einfach vergessen. Ich habe leider nichts für dich.« Lara ließ den Kopf hängen.
Daniel setzte sich auf die Armlehne ihres Stuhls und nahm seine Frau in den Arm. »Ist doch nicht schlimm. Anscheinend wusste dein Unterbewusstsein, dass du etwas vergessen hast, und hat dich nicht schlafen lassen«, sagte Daniel und stupste Lara an.
»Hey! Hör auf, mich zu veräppeln! Außerdem weißt du genau, dass ich an so etwas wie Unterbewusstsein oder Seele nicht glaube. Ich glaube nur an Dinge, die ich sehen und anfassen kann!«, gab Lara zurück, schnaubte scherzhaft und schubste Daniel von der Lehne.
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