Olivers Magen verkrampfte sich bei Bens Worten; er ballte die Fäuste. Er wollte nicht alleine zurückgelassen werden, doch genauso wenig wollte er weiter mitgehen. Es war eine Zwickmühle. Wenn er jetzt nicht mitkäme, dann würde ihm Ben das ewig vorhalten. Schlussendlich entschied Oliver: Alleine im Wald zu bleiben, war schlimmer, als mit zwei Vollpfosten zu einer verfluchten Mühlenruine zu laufen. »Nein ich bin kein Angsthase! Lasst uns weitergehen! Mir ist einfach nur kalt«, antwortete Oliver kopfschüttelnd und ging zielstrebig an den beiden vorbei. Die Arme hatte er stur vor der Brust verschränkt und schnaubte.
Ben legte den Arm wieder um seine Freundin. So trotteten sie hinter ihm her. Immer weiter den Berg hinauf. Er belächelte Oliver und flüsterte seiner Freundin etwas ins Ohr. Doch Oliver war das in diesem Moment ziemlich egal, auch wenn sie hinter ihm kicherten. Er wollte einfach nur so schnell wie möglich alles hinter sich bringen und wieder nach Hause gehen. Aber nicht alleine! Wichtig war nur, dass keiner bemerkte, wie viel Angst er hatte. Diese Blöße wollte er sich nicht vor seinen Freunden geben.
Oben angekommen blieb Oliver stehen. Bei dem Anblick der Mühle lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Es behagte ihm keineswegs hier oben.
Dunkel lag die Ruine vor ihnen. Die Zeit war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Man konnte nur noch erahnen, wie stolz und groß sie früher einmal gewesen war. Die Windmühlenflügel waren nicht mehr dran, das Dach war an einigen Stellen eingebrochen. Das Wasserrad war noch vorhanden, da sie irgendwann einmal als denkmalgeschütztes Objekt restauriert worden war, allerdings stand es still, obwohl das Wasser plätscherte. Das Holz war alt und dunkel, die Tür verriegelt und die Fenster mit Brettern zugenagelt.
Auf einem dunklen, moosbewachsenen Steinfundament thronte das, in Olivers Augen, gruselige Unheil, was ihn den ganzen Weg hier herauf beobachtet hatte. Die Mühle schien auf ihn herabzublicken, so als wollte sie sagen: Ich habe auf dich gewartet.
Er hatte von seiner Uroma gehört, dass die Mühle eine Zeit lang ein Herrenhaus gewesen war, bevor einige Leute sie wegen Denkmalschutz wieder umgebaut hatten. Was auch immer es jetzt war – es erschien ihm böse.
Ihm war von der ersten Sekunde an klar gewesen, dass er keinen Fuß in diese gottverdammte Mühle setzen würde. Er schluckte bei dem Anblick, doch seine Kehle war ganz trocken. Schnell schaute er in Richtung Wald, der dunkel und bedrohlich hinter ihm lag. Ihm kam es so vor, als müsste er sich hier zwischen Cholera und Pest entscheiden. Vor ihm die Cholera-Ruine und hinter ihm der dunkle Pest-Wald.
Ob es ihm gefiel oder nicht, er musste warten, bis die beiden ihren Spaß gehabt hatten. Dann würden sie endlich alle heimgehen können.
Ben und Caroline überholten ihn wieder, denn er stand immer noch steif da. Im Vorübergehen drehte Ben kurz den Kopf zu ihm und sagte spöttisch, so wie er es immer tat: »Kommst du jetzt oder brauchst du eine Extra-Einladung?«
Oliver nickte kurz und folgte ihnen bis zur Pforte.
Ben versuchte, die Tür zu öffnen. Er rüttelte daran, doch sie bewegte sich keinen Millimeter.
Oliver schaute sich immer wieder um, er hatte das bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden. »Kommt, lasst uns gehen! Ich halte das für keine gute Idee. Wir können ja morgen wieder herkommen«, sagte er.
Ben tat so, als hätte er Oliver überhört. Er nahm ein paar Schritte Anlauf und stemmte sich mit voller Kraft gegen die Tür. Diese ächzte und knarrte, doch sie blieb weiterhin verschlossen. Er stemmte sich ein zweites und ein drittes Mal mit der Schulter gegen die Tür. Beim vierten Versuch gab sie endlich nach und brach auf.
Oliver spürte einen eiskalten Hauch im Nacken und bekam eine Gänsehaut. Es fühlte sich so an, als hätte jemand direkt hinter ihm ausgeatmet, nur eben eisig kalt. Er blickte sich um, doch dort stand niemand.
»Hereinspaziert, Leute!«, sagte Ben wie ein Zirkusdirektor und machte eine einladende Geste, indem er sich leicht nach vorne beugte und mit dem rechten Arm in Richtung Tür wies.
Caroline machte einen kurzen Knicks und ging die drei steinernen Stufen hinauf.
Oliver zögerte, woraufhin Ben ihn böse anfunkelte.
Caroline war bereits im dunklen Schlund der Ruine verschwunden.
»Ich warte lieber draußen und gebe euch Bescheid, wenn jemand kommt«, flüsterte Oliver, der sich immer noch beobachtet fühlte.
»Wer soll denn um diese Uhrzeit hier lang kommen? Ein Jogger? Oder deine Oma?«
»Tut mir leid, dann nenn mich halt einen Angsthasen. Aber ich komme nicht mit rein. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl bei der Sache. Es wäre auch besser für euch beide, wenn wir einfach zurückgehen und morgen bei Tageslicht wiederkommen. Bitte! Ich spüre wirklich, dass etwas nicht stimmt. Es ist nicht, weil ich Angst habe. Ich bin mir sicher: Irgendetwas ist hier faul.«
»Ja, ich weiß, was hier faul und morsch ist. Die alten Bretter der Mühle. Riechst du das? Moder und Dreck. Dann kommst du halt nicht mit. Oh, du großer Hellseher«, alberte Ben und hob die Hände wie zum Gebet. Danach zuckte er mit den Schultern und folgte seiner Freundin. Einen Schritt – und dann war auch er in der Mühle verschwunden.
Oliver konnte ihn gerade noch so in der Pforte erahnen, bevor Ben sein Handy hervorkramte, um Licht zu machen. Sein Smartphone hatte natürlich eine Taschenlampenfunktion.
Plötzlich schrie Ben schmerzverzerrt auf. Seine Freundin Caroline zuckte zusammen und stieß einen kurzen Schreckensschrei aus.
Oliver erschrak so sehr, dass er beim Zurückweichen stolperte und auf seinen dicken Hintern plumpste. Er keuchte nach Luft und rappelte sich wieder auf. »Was ist?«, schrie Oliver aufgeregt.
Ben drehte sich um und lachte schallend. »Ha, ha. Reingelegt, du Baby. Specki hat Angst.« Ben hielt sich den Bauch vor Lachen. Er konnte sich kaum noch einkriegen.
»Das war nicht witzig«, sagten Oliver und Caroline gleichzeitig.
Ben zuckte nur mit den Schultern und drehte sich zu seiner Freundin um. Kurz darauf waren beide verschwunden.
Oliver konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie hier oben nicht alleine waren. Es erdrückte ihn. Unruhig wippte er von einem Fuß auf den anderen und bewegte die Zehen in seinen etwas zu großen Schuhen. Immer wieder schaute er nervös in jede Richtung. Prüfend, ob wirklich keiner in der Nähe war. Ihm wurde kälter, jetzt, da er dort alleine stand und sich nicht mehr bewegte. Das kühle Gefühl kroch von seinen Füßen angefangen aufwärts.
Plötzlich hörte er ein Knarren, das aus der Mühle kam. Bei dem Geräusch zuckte er zusammen und bekam eine Gänsehaut. Er schüttelte sich. »Ben? Caroline?«, flüsterte er leise, doch es kam keine Antwort. Das Gefühl, dass dort noch etwas, jemand, war, der sie beobachtete, wurde immer stärker. Es schwoll regelrecht in ihm an. Mit jedem Herzschlag ein Stückchen mehr. Oliver zitterte am ganzen Leib und fühlte sich schlechter denn je. Sein Hals war trocken, und er musste anfangen zu husten.
Als er seinen Blick wieder auf die Mühle richtete, hatte er den Eindruck, etwas im Augenwinkel weghuschen zu sehen. Etwas Großes, Dunkles und sehr Unheimliches.
Schnell blickte er dem Schatten hinterher, doch es war nichts zu sehen. Noch nicht einmal das hohe Gras bewegte sich. Es konnte aber auch sein, dass seine Sinne, taub von der Angst, ihm Streiche spielten.
Trotzdem wollte er lieber auf Nummer sicher gehen, dass keiner hinter der nächsten Ecke stand. Langsam schlich er die Wand entlang. Er ging das ganze Stück mit dem Rücken zur Mauer, sodass niemand hinter ihm herschleichen konnte.
Da war es wieder, der eiskalte Hauch im Nacken. Oliver schaute sich panisch in alle Richtungen um.
Nichts.
Selbst das hohe Gras vor seinen Füßen bewegte sich keinen Millimeter. Er musste es sich eingebildet haben. Allerdings hätte man in dem hohen Gras hier oben eine ganze Kompanie verstecken können, ohne dass er sie bemerken würde. Vor allem bei der Dunkelheit. Oliver atmete tief ein. Er musste sich beruhigen. Vor allem musste er aufhören zu halluzinieren.
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