Vorsichtig beugte er sich vor und schaute um die Ecke. Nichts. Dort war gar nichts. Kein Tier, kein Mensch und kein Schatten. Erleichtert atmete er aus und schlich zu seiner vorherigen Position zurück. Jetzt war ein Stückchen der Angst von ihm abgefallen.
Ben hatte die Tür beim Hineingehen hinter sich geschlossen. Nun musste Oliver von der Wiese, aus sieben Metern Entfernung, eine geschlossene Tür anstarren. Kurz überlegte er, ob Ben wirklich die Tür hinter sich geschlossen hatte oder nicht und tat es dann als unwichtig ab.
Die Angst in ihm wich langsam, als er überlegte, ob er nicht doch Ben und Caroline folgen sollte. Dann wäre er derjenige, der sie erschrecken könnte. Das wäre ein Spaß! Oliver fand die Idee fabelhaft und musste bei dem Gedanken daran, wie Ben und Caroline voller Todesangst dreinblicken würden, grinsen. Vielleicht würde Ben sogar schreien, das wäre die Krönung.
Langsam schritt er auf die Mühle zu. Nichts passierte. Jetzt schöpfte er sogar Mut. Vorsichtig stieg er auf die erste Treppenstufe, doch mit einem Schlag waren seine guten Gefühle weg und die schlechten wieder da. Das Unbehagen und die Angst waren zurück. Dennoch stieg er auf die zweite der drei Stufen und streckte seine Hand dem Türriegel entgegen.
Die Tür war mit einem Riegel verschlossen, den man zum Öffnen nach links schieben musste. Doch das Schloss war kaputt. Somit hätte man die Tür auch einfach aufdrücken können. Oliver streckte dennoch seine Hand nach dem Griff aus und legte vorsichtig seine Finger darauf ab. Der Griff war warm und schien unter seiner Hand zu pulsieren, als würde ein Herz darin schlagen. Augenblicklich zog er seine Hand zurück und sprang rückwärts von der Treppe.
Es war besser, er würde wieder auf seinen angestammten Platz mit ausreichend Sicherheitsabstand gehen. Seine Knie zitterten so stark, dass er kaum laufen konnte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf den verschlossenen Eingang.
Äußerlich sah er wieder ruhig und gelassen aus, doch innerlich brodelte es in ihm. Seine Gedanken überschlugen sich. Fast apathisch hatte er die Tür fixiert. Er hoffte, dass Ben und Caroline bald rauskommen würden. Dann könnten sie alle nach Hause gehen. Nach Hause, dorthin, wo sie in Sicherheit waren. Er schwor sich, nie wieder bei einer von Bens Ideen mitzumachen. Das nächste Mal würde er lieber ein Angsthase sein.
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht!
Ben, Caroline und er würden diese Nacht nicht überleben. Das Gefühl überkam ihn so schlagartig, als hätte jemand mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf gehauen. Er bekam Panik. »Ben! Caroline! Wir müssen verschwinden!«, brüllte Oliver, doch es kam keine Antwort zurück. Er begann, an seinen Fingernägeln zu kauen, als plötzlich ein markerschütternder Schrei an sein Ohr drang. Das war Ben! Er war sich sicher. Seine Augen waren nur noch auf den Eingang der Mühle fixiert, so angestrengt, als wollte er die Tür mit seinen Blicken zum Explodieren bringen.
In seinem Kopf ratterte es. Was ist passiert? Ist überhaupt etwas passiert, oder wollen sie mir nur wieder einen Streich spielen? Das würde Ben ähnlichsehen. Nein, hier stimmt etwas nicht. Das war kein Spaß. Und wenn nicht, dann musste Ben wirklich um sein Leben Angst haben!
Viele Gedanken schossen Oliver durch den Kopf. Er drehte sich kurz um, damit er sicher sein konnte, dass die Luft hier draußen wirklich rein war. Dann fixierte er wieder die Tür.
Stille.
Totenstille.
Langsam schlich er rückwärts und entfernte sich Schritt für Schritt immer weiter. Wie in Zeitlupe. Dafür setzte er einen Fuß hinter den anderen, sodass sich Zehen und Ferse jedes Mal berührten.
Plötzlich knallte die Tür auf und zerbarst an der Wand. Jeder Muskel von Oliver spannte sich innerhalb von einer Sekunde an. Sein Blick haftete auf der Pforte. Auf einmal erschien Ben, in ein seltsames rotes Licht eingetaucht. Er stand im Türrahmen. Sein Gesicht war bleich, ganz und gar weiß. Seine Augen waren starr und leer. So einen Blick hatte Oliver noch nie gesehen. Er hoffte darauf, dass Ben jeden Moment nach vorne springen und »Verarscht« rufen würde. Er ließ den Blick von Bens Gesicht ab und schaute an ihm herunter. Ben hatte die Hände auf seinen Bauch gepresst. Oliver versuchte, etwas zu erkennen, doch es war so dunkel, außer dem roten Licht hinter Ben.
Das Licht war unheimlich, nicht von dieser Welt. Es war dasselbe unangenehme Rot, das Grablichter von sich gaben, wenn alles auf den Friedhöfen in der Nacht totenstill dalag. Tot im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ben?«, fragte Oliver leise. »Alles in Ordnung mit dir? Was ist los?« Langsam ging er auf Ben zu. Sein Blick war immer noch starr auf seine Hände gerichtet.
Dann sah er es auf einmal. Etwas, das ihm überhaupt nicht gefiel. Blut! Es war Blut, das zwischen Bens Händen hervorquoll. Sehr viel Blut. Es tropfte vor ihm auf den Boden. Genau auf die oberste Treppenstufe. Dort bildete sich bereits eine Pfütze und rann in kleinen Rinnsalen die Steinstufen hinab. Langsam und tropfend, geradezu unwirklich und gespenstisch.
Starr stand Ben da und stierte geradeaus. Seine Unterlippe begann zu zittern, und er hauchte kaum hörbar zu Oliver: »Lauf …«
Oliver konnte nicht. Er stand einfach nur da und brachte es nicht fertig, seinen Blick von ihm zu lassen. Er konnte seinen Freund, auch wenn dieser ein Arschloch war, hier oben nicht einfach alleine, geschweige denn sterben lassen. Und was war mit Caroline?
Woran kann er sich nur verletzt haben?, schoss es Oliver durch den Kopf. Dabei hätte die Frage lauten müssen: Wer konnte Ben nur verletzt haben?
Oliver war weder in der Lage, zu Ben zu gehen, noch sonst irgendetwas zu unternehmen.
Währenddessen röchelte Ben erneut: »Lauf …« Dabei kamen blutige Schaumblasen aus seinem Mund heraus. Es war kaum zu hören gewesen, dennoch konnte es Oliver aus dieser kurzen Entfernung von seinen Lippen ablesen. Er stand immer noch wie angewurzelt vor Ben. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Seine Fäuste ballten sich.
Auf einmal begann Ben, am ganzen Körper zu zittern. Er schüttelte sich so stark, als hätte er einen Anfall. Dabei verdrehte er die Augen. Blutiger Speichel kam aus seinem Mund und rann das Kinn hinab. Es tropfte auf seine Brust. Er ließ die Hände kraftlos sinken.
Oliver senkte seinen Blick auf den Bauch. Im nächsten Augenblick war er genauso bleich wie Ben, als seine Innereien auf die Treppe platschten. Ein blutiger, ekelhafter Klumpen Matsch. Die Gedärme hingen an ihm herunter; sein Bauch war nicht mehr vorhanden.
Oliver schluckte, doch seine Kehle war staubtrocken. Er stand einfach nur da und starrte Ben, oder das, was noch von ihm übrig war, an. Er war tot, jedenfalls so gut wie tot.
Unbemerkt von ihm selbst wurde seine Hose nass im Schritt. Er hatte sich vor Angst eingenässt. Jetzt war es ihm endlich möglich, seine Lähmung zu brechen. Blitzschnell drehte er sich um und rannte los, so schnell er konnte. Dabei achtete er noch nicht einmal darauf, wohin er lief. Er rannte einfach nur, schnell weg von der Mühle, egal wohin, einfach nur weg. Er sprintete so schnell nach vorn, dass sein Speck in alle Richtungen wackelte.
Er rannte, bis ihm die Seiten wehtaten. Erst als er keinen weiteren Schritt mehr tun konnte, blieb er stehen. Nach vorne gebeugt und die Hände auf die Knie gestützt rang er nach Luft. Ihm schossen die Tränen in die Augen, als ihm bewusst wurde, dass Ben und Caroline diese Nacht nicht überlebt hatten. Ihm wurde schlagartig schlecht, sodass er sich übergeben musste. Genau vor seine eigenen Füße.
Schnell wischte er mit seinem Ärmel den Mund ab und spuckte noch einmal aus. Oliver stand auf einer Lichtung und schaute sich um.
Denk nach! Denk nach!, befahl er sich selbst. Was sollte er nur in so einer Situation tun? In seinem Kopf wurde endlich alles wieder eine Spur klarer. Er wusste auf einmal, was er tun musste. Er musste die Polizei verständigen, wenn er wollte, dass seine Freunde eine Überlebenschance bekamen.
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