Der tote Prinz
Band 16 der Märchenspinnerei
Roman
Katherina Ushachov
Märchenspinnerei
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Katherina Ushachov
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Für alle Verlorenen, Verstoßenen und Vertriebenen. Und für alle Wesen dieser Welt.
Die alte Gran hatte gesagt, dass sein Name in einer längst toten Sprache »der Glückliche« bedeutete, aber glücklich fühlte Felix sich nicht.
Die schmutzigen Lumpenwickel schützten seine Handflächen nur unzureichend. Er spürte, dass er sie längst durchgeschwitzt hatte.
Schweiß lief ihm auch über das Gesicht, brannte in seinen Augen und verschleierte die Sicht. Oder war es die Luft, die im gnadenlosen Sonnenlicht flimmerte?
Das war das Einzige, was sie im Überfluss hatten, seit sich die Staubschleier gelegt hatten und die Dunkelheit die Welt nicht mehr verschluckte.
Er erinnerte sich nicht mehr an diese Zeit. Nur manchmal, wenn er sich sehr anstrengte, konnte er das Gefühl beißender Kälte auf der Haut herbeirufen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müllbergen einzuschlafen, endete meist tödlich.
Etwas Blaues funkelte vor ihm in der Sonne und er legte hastig die Hand darauf. Blaues Glas war kostbar. Er konnte es gegen Wasser eintauschen. Und gegen genug Essen für eine Woche. Sieben Tage ohne Hunger, ohne Durst, ohne die Sorge um sein Überleben.
Wenn, nur wenn …
Die auf ihn fallenden Schatten ließen seinen kurzen Tagtraum zerschellen.
Felix drehte sich um und starrte in die rostbraunen Augen von Aino. Die Haare von der Sonne zu einer undefinierbaren Farbe gebleicht, das helle Gesicht mit einer dicken, roten Paste gegen die Sonne bedeckt, ragte sie in improvisierter Rüstung über ihm auf. Hinter ihr standen zwei Mitglieder ihrer Gruppe, beide hatten einen höheren Rang als Felix – und somit mit der Erlaubnis, auf ihn einzuprügeln. »Was hast du da?«
Er ballte die Hände zu Fäusten und ließ das Glasstück unauffällig zwischen den Schichten seiner Handbinden verschwinden. Er brauchte es dringender als Aino, die eine ganze Reihe davon um den Hals trug. Ein Vermögen! Aber Frauen hatten ohnehin Vorteile. Sie konnte ihn allein dafür schlagen und bevormunden, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er dagegen tun durfte.
»Nichts. Ich habe noch nichts gefunden.«
Sie trat näher und stellte ihren Stiefel auf seine Schulter. »Ah ja? Los, durchsucht ihn. Und wenn er lügt …« Ihre Augen glänzten – als würde sie sich seine Strafe bereits ausmalen. »Du weißt, was mit Müllsammlern passiert, die von der Gemeinschaft stehlen.«
Die zwei Schränke hinter ihr setzten sich in Bewegung.
So weit durfte er es nicht kommen lassen. Gemeinschaft schön und gut, aber Ainos Strafen waren hart, und auf den Müllbergen konnte jede Verletzung ein Todesurteil sein. Felix packte ihr Bein, zog es nach vorne und sich selbst daran auf die Beine. Ehe Aino wieder aufstehen und ihm folgen konnte, rannte er bereits mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Hier kannte er jeden Hügel, jede baufällige Wellblechhütte, jedes Versteck. Wenn er sich nur nicht blenden ließ, konnte er sie abhängen.
Aino und ihre Begleiter keuchten in seinem Rücken.
Er glaubte, ihren heißen Atem in seinem Nacken zu spüren, sengender als die Hitze der Sonne im Gesicht.
Er strauchelte und fiel.
Berge an wackelig gestapeltem Müll brachen um ihn herum ein. Er rutschte wie auf Treibsand. Je mehr er sich bewegte, desto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.
Aino stand als Silhouette des Triumphs am Rande des Abgrundes und lachte. Sie hob etwas auf und warf es ihm hinterher. Damit löste sie einen weiteren Müllrutsch aus.
Felix strampelte, suchte Halt und spürte einen dumpfen Schmerz am Kopf, der sich ausbreitete und ihn verschluckte.
Er erwachte mit trockenem Mund und Kopfschmerzen, die ihm Tränen in die Augen trieben. Um ihn herum nichts als Dunkelheit und viele kleine Gegenstände, die auf seine Brust drückten und ihm die Luft zum Atmen nahmen.
Vorsichtig streckte er die Arme aus und schaffte es, mit den Fingern die Oberfläche aus lockerem Gerümpel zu durchbrechen. Vielleicht war sogar buntes Glas dabei … Seine Finger ertasteten etwas Glattes, Metallisches. Er hielt sich daran fest und zog sich vorsichtig aus dem Müll, umsichtig, um keine neue Lawine zu verursachen. Dann erst schaute er sich an, woran er sich festgehalten hatte.
Ein größerer, verhakter Gegenstand aus zerkratztem, grün angelaufenem Metall.
Bronze. Und gleich großes Stück davon. Das war bestimmt wertvoll; falls er sich bis zur Stadt durchschlagen konnte, um es zu verkaufen, ganz allein, ohne dass Aino ihren Anteil verlangen konnte …
Felix grub vorsichtig so lange, bis er den Gegenstand rausziehen konnte. Sein Herz raste. Sofort schob er das Ding vor Schreck ruckartig unter seine Jacke. Das war doch … Was war das?
Hastig blickte er sich um, ob jemand in der Nähe war, aber er war alleine. Keine anderen Müllsammler in Sicht.
Er setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Seite des Hügels und nahm das Bronzeding wieder aus seiner Jacke.
Kreisrund, mit einigen kleinen Quadraten, neben denen eine Sonne abgebildet war, zeigte es ein staubiges, zerkratztes Jungengesicht, grüne Augen mit goldenen Punkten inmitten von nahezu schwarzer Haut. »Hallo, du. Ich bin Felix.«
Das Ding leuchtete kurz auf und Linien zogen sich über das Gesicht des Jungen. Zahlen leuchteten auf seiner Wange auf: 2084. Dann ertönte eine freundliche Frauenstimme aus dem Ding und vibrierte gegen seine Finger. »Hallo Felix. Ich bin Narzissa. Stelle deine Frage.«
»Narzissa?« Das war ein Frauenname. Aber das Gesicht war das eines Jungen. »Wer ist das im Fenster?«
»Ich bin ein Spiegel. Du siehst dich selbst.«
»Mich selbst? So sehe ich aus?«
Linien überzogen das Gesicht – sein Gesicht.
»Ja. Nach den Regeln des Goldenen Schnitts bist du schön.«
Schön? Er?
Gran hatte mal gesagt, dass die Leute früher glaubten, Schönheit könne die Welt retten. Aber Gran war längst tot, und in seiner von wählerischen Warladys dominierten Welt war Schönheit vor allem eins: Macht.
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