Katherina Ushachov - Der tote Prinz

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Ein toter Jüngling.
Ein sprechender Spiegel.
Eine zerstörte Erde.
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//
Verseuchte Luft, haushohe Müllberge und rivalisierende Warladys, von denen eine ihre Mutter ist: Das ist Elessas Welt. Jeder Schritt draußen kann den Tod bedeuten. Dennoch verlässt sie den Schutz des heimischen Palastes auf der Suche nach dem Mann, den sie eigentlich nie heiraten wollte. Die Alternative zu Dario jedoch, sein Stiefvater, wäre weit schlimmer. Der erschlich sich durch Mord seinen Platz als heimlicher Herrscher der rivalisierenden Familie und bedroht nun auch Elessas Heimat. Um ihm zu entgehen, folgt Elessa der einzigen Spur, die sie hat: den Worten eines mechanischen Spielzeugs aus längst vergangener Zeit.
Ist Dario wirklich tot und damit das nächste Opfer des ruchlosen Stiefvaters oder steckt wirklich Hoffnung in diesem einen Wort, das die Maschine für Elessa hat?
"Die tote Prinzessin und die sieben Recken" einmal anders. Katherina Ushachov versetzt Puschkins Märchen in eine düstere Zukunft und erzählt im 16. Buch der Märchenspinnerei die Geschichte eines mutigen Mädchens – in den Überresten einer Gesellschaft, erbaut aus unserem Müll.

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Der tote Prinz

Band 16 der Märchenspinnerei

Roman

Katherina Ushachov

Märchenspinnerei

Alle Rechte bei Katherina Ushachov

Copyright © März 2019

Katherina Ushachov

Heidegg 471

6855 Andelsbuch, Österreich

https://feuerblut.com

Cover: ©Farbenmelodie - www.farbenmelodie.jimdo.com

Unter Verwendung von Stockdaten:

tugolukof / shutterstock.com; donatas1205 / shutterstock.com;

Vladimir Badaev / shutterstock.com; Lia Koltyrina / shutterstock.com;

Magergram / shutterstock.com; IgorZh / shutterstock.com;

Devesh kumar sagar / shutterstock.com;

nicolas-cool / unsplash.com; sergey-pesterev / unsplash.com

Für alle Verlorenen, Verstoßenen und Vertriebenen. Und für alle Wesen dieser Welt.

Felix

Die al­te Gran hat­te ge­sagt, dass sein Na­me in ei­ner längst to­ten Spra­che »der Glück­li­che« be­deu­te­te, aber glück­lich fühl­te Fe­lix sich nicht.

Die schmut­zi­gen Lum­pen­wi­ckel schütz­ten sei­ne Hand­flä­chen nur un­zu­rei­chend. Er spür­te, dass er sie längst durch­ge­schwitzt hat­te.

Schweiß lief ihm auch über das Ge­sicht, brann­te in sei­nen Au­gen und ver­schlei­er­te die Sicht. Oder war es die Luft, die im gna­den­lo­sen Son­nen­licht flim­mer­te?

Das war das Ein­zi­ge, was sie im Über­fluss hat­ten, seit sich die Staub­schlei­er ge­legt hat­ten und die Dun­kel­heit die Welt nicht mehr ver­schluck­te.

Er er­in­ner­te sich nicht mehr an die­se Zeit. Nur manch­mal, wenn er sich sehr an­streng­te, konn­te er das Ge­fühl bei­ßen­der Käl­te auf der Haut her­bei­ru­fen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müll­ber­gen ein­zu­schla­fen, en­de­te meist töd­lich.

Et­was Blau­es fun­kel­te vor ihm in der Son­ne und er leg­te has­tig die Hand dar­auf. Blau­es Glas war kost­bar. Er konn­te es ge­gen Was­ser ein­tau­schen. Und ge­gen ge­nug Es­sen für ei­ne Wo­che. Sie­ben Ta­ge oh­ne Hun­ger, oh­ne Durst, oh­ne die Sor­ge um sein Über­le­ben.

Wenn, nur wenn …

Die auf ihn fal­len­den Schat­ten lie­ßen sei­nen kur­z­en Tag­traum zer­schel­len.

Fe­lix dreh­te sich um und starr­te in die rost­brau­nen Au­gen von Ai­no. Die Haa­re von der Son­ne zu ei­ner un­de­fi­nier­ba­ren Far­be ge­bleicht, das hel­le Ge­sicht mit ei­ner di­cken, ro­ten Pas­te ge­gen die Son­ne be­deckt, rag­te sie in im­pro­vi­sier­ter Rüs­tung über ihm auf. Hin­ter ihr stan­den zwei Mit­glie­der ih­rer Grup­pe, bei­de hat­ten einen hö­he­ren Rang als Fe­lix – und so­mit mit der Er­laub­nis, auf ihn ein­zu­prü­geln. »Was hast du da?«

Er ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und ließ das Glas­stück un­auf­fäl­lig zwi­schen den Schich­ten sei­ner Hand­bin­den ver­schwin­den. Er brauch­te es drin­gen­der als Ai­no, die ei­ne gan­ze Rei­he da­von um den Hals trug. Ein Ver­mö­gen! Aber Frau­en hat­ten oh­ne­hin Vor­tei­le. Sie konn­te ihn al­lein da­für schla­gen und be­vor­mun­den, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er da­ge­gen tun durf­te.

»Nichts. Ich ha­be noch nichts ge­fun­den.«

Sie trat nä­her und stell­te ih­ren Stie­fel auf sei­ne Schul­ter. »Ah ja? Los, durch­sucht ihn. Und wenn er lügt …« Ih­re Au­gen glänz­ten – als wür­de sie sich sei­ne Stra­fe be­reits aus­ma­len. »Du weißt, was mit Müll­samm­lern pas­siert, die von der Ge­mein­schaft steh­len.«

Die zwei Schrän­ke hin­ter ihr setz­ten sich in Be­we­gung.

So weit durf­te er es nicht kom­men las­sen. Ge­mein­schaft schön und gut, aber Ai­nos Stra­fen wa­ren hart, und auf den Müll­ber­gen konn­te je­de Ver­let­zung ein To­des­ur­teil sein. Fe­lix pack­te ihr Bein, zog es nach vor­ne und sich selbst dar­an auf die Bei­ne. Ehe Ai­no wie­der auf­ste­hen und ihm fol­gen konn­te, rann­te er be­reits mit ge­schlos­se­nen Au­gen der Son­ne ent­ge­gen. Hier kann­te er je­den Hü­gel, je­de bau­fäl­li­ge Well­blech­hüt­te, je­des Ver­steck. Wenn er sich nur nicht blen­den ließ, konn­te er sie ab­hän­gen.

Ai­no und ih­re Beglei­ter keuch­ten in sei­nem Rücken.

Er glaub­te, ih­ren hei­ßen Atem in sei­nem Na­cken zu spü­ren, sen­gen­der als die Hit­ze der Son­ne im Ge­sicht.

Er strau­chel­te und fiel.

Ber­ge an wa­cke­lig ge­sta­pel­tem Müll bra­chen um ihn her­um ein. Er rutsch­te wie auf Treib­sand. Je mehr er sich be­weg­te, de­sto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.

Ai­no stand als Sil­hou­et­te des Tri­um­phs am Ran­de des Ab­grun­des und lach­te. Sie hob et­was auf und warf es ihm hin­ter­her. Da­mit lös­te sie einen wei­te­ren Müll­rutsch aus.

Fe­lix stram­pel­te, such­te Halt und spür­te einen dump­fen Schmerz am Kopf, der sich aus­brei­te­te und ihn ver­schluck­te.

Er er­wach­te mit tro­ckenem Mund und Kopf­schmer­zen, die ihm Trä­nen in die Au­gen trie­ben. Um ihn her­um nichts als Dun­kel­heit und vie­le klei­ne Ge­gen­stän­de, die auf sei­ne Brust drück­ten und ihm die Luft zum At­men nah­men.

Vor­sich­tig streck­te er die Ar­me aus und schaff­te es, mit den Fin­gern die Ober­flä­che aus lo­cke­rem Ge­rüm­pel zu durch­bre­chen. Vi­el­leicht war so­gar bun­tes Glas da­bei … Sei­ne Fin­ger er­tas­te­ten et­was Glat­tes, Me­tal­li­sches. Er hielt sich dar­an fest und zog sich vor­sich­tig aus dem Müll, um­sich­tig, um kei­ne neue La­wi­ne zu ver­ur­sa­chen. Dann erst schau­te er sich an, wor­an er sich fest­ge­hal­ten hat­te.

Ein grö­ße­rer, ver­hak­ter Ge­gen­stand aus zer­kratz­tem, grün an­ge­lau­fe­nem Me­tall.

Bron­ze. Und gleich großes Stück da­von. Das war be­stimmt wert­voll; falls er sich bis zur Stadt durch­schla­gen konn­te, um es zu ver­kau­fen, ganz al­lein, oh­ne dass Ai­no ih­ren An­teil ver­lan­gen konn­te …

Fe­lix grub vor­sich­tig so lan­ge, bis er den Ge­gen­stand raus­zie­hen konn­te. Sein Herz ras­te. So­fort schob er das Ding vor Schreck ruck­ar­tig un­ter sei­ne Ja­cke. Das war doch … Was war das?

Has­tig blick­te er sich um, ob je­mand in der Nä­he war, aber er war al­lei­ne. Kei­ne an­de­ren Müll­samm­ler in Sicht.

Er setz­te sich auf den Bo­den, lehn­te sich an die Sei­te des Hü­gels und nahm das Bron­ze­ding wie­der aus sei­ner Ja­cke.

Kreis­rund, mit ei­ni­gen klei­nen Qua­dra­ten, ne­ben de­nen ei­ne Son­ne ab­ge­bil­det war, zeig­te es ein stau­bi­ges, zer­kratz­tes Jun­gen­ge­sicht, grü­ne Au­gen mit gol­de­nen Punk­ten in­mit­ten von na­he­zu schwar­zer Haut. »Hal­lo, du. Ich bin Fe­lix.«

Das Ding leuch­te­te kurz auf und Li­ni­en zo­gen sich über das Ge­sicht des Jun­gen. Zah­len leuch­te­ten auf sei­ner Wan­ge auf: 2084. Dann er­tön­te ei­ne freund­li­che Frau­en­stim­me aus dem Ding und vi­brier­te ge­gen sei­ne Fin­ger. »Hal­lo Fe­lix. Ich bin Nar­zis­sa. Stel­le dei­ne Fra­ge.«

»Nar­zis­sa?« Das war ein Frau­en­na­me. Aber das Ge­sicht war das ei­nes Jun­gen. »Wer ist das im Fens­ter?«

»Ich bin ein Spie­gel. Du siehst dich selbst.«

»Mich selbst? So se­he ich aus?«

Li­ni­en über­zo­gen das Ge­sicht – sein Ge­sicht.

»Ja. Nach den Re­geln des Gol­de­nen Schnitts bist du schön.«

Schön? Er?

Gran hat­te mal ge­sagt, dass die Leu­te frü­her glaub­ten, Schön­heit kön­ne die Welt ret­ten. Aber Gran war längst tot, und in sei­ner von wäh­le­ri­schen War­la­dys do­mi­nier­ten Welt war Schön­heit vor al­lem eins: Macht.

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