Katrin Zimmer - Der Himmel kann warten

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Aaron Keller, Mitte dreißig, beruflich erfolgreich und im Privatleben wenig hoffnungsvoll, wäre seiner Jugendliebe Lena wahrscheinlich noch bis zur Rente hinterhergelaufen, hätte diese ihn nicht zufällig in die Nähe von Nora geführt.
Aaron ist fasziniert von der Salsa-Tänzerin im «Cielo», die so anmutig und selbstbewusst und dennoch eigenartig verletzlich durchs Leben wandelt.
Innerhalb einer Woche entwickelt sich ein wunderbares, dünnes Band der Vertrautheit zwischen dem nüchternen IT-ler und der jungen Künstlerin, die jenseits aller Konventionen ihr Glück gefunden zu haben scheint.
Alles beginnt so verheißungsvoll für Aaron, bis Noras schrecklicher Unfall ihr frisches Glück scheinbar jäh zerstört…
Eine Sekunde Unachtsamkeit nur, und Aarons Leben steht erneut auf dem Kopf. Von nun an beginnt ein Kampf gegen die Zeit und den Verlust seiner Realität. Auf der Suche nach «seiner» Frau scheint es plötzlich, als richte sich die ganze Welt gegen ihn…

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Der Himmel kann warten…

„Oh Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit Dir anzufangen.“

(Aurelius Augustinus)

Impressum

Der Himmel kann warten

Katrin Zimmer

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Katrin Zimmer

ISBN 978-3-8442-3880-8

Samstag, 25. September, 14.53 Uhr

„Halten Sie mal.“

Der Sanitäter drückte mir die Infusion in die Hand. Es war verrückt: an der Infusion hing der Schlauch und am Schlauch hing das Leben. Noras Leben. Ich starrte ins Leere.

„Halten Sie das jetzt, bitte“, wiederholte der Sanitäter mit sanftem Nachdruck und schob mich auf die Seite.

Ich war nicht dumm. Ich wusste sehr wohl, dass man Infusionen, an denen Schläuche hingen, nicht festhalten musste. Dafür gab es Ständer. Oder Rettungssanitäter. Aber ich gehorchte und hielt sie fest.

Der Sanitäter war schlauer. Er wusste, dass man Menschen, die eben ihren Halt zu verlieren drohten, etwas geben musste, an dem sie sich festhalten konnten. Zur Not eine Infusion.

Nora lag rücklings auf dem Boden. Ihre offenen, blonden Haare waren fächerförmig über den Asphalt gebreitet und nur an den Spitzen blutrot gefärbt. Es gehörte da nicht hin, das Blut, das sich in einem kleinen Rinnsal seinen Weg nach unten bahnte und nach und nach die Haare tränkte. Es sollte aufhören! Nora sah so friedlich aus. Ihre Augen und ihr Mund waren geschlossen und wie sie so dalag erinnerte sie mich an Dornröschen im hundertjährigen Schlaf. Meine wunderschöne Nora.

Der Fahrradfahrer saß an der Straßenecke und hielt sein verheultes Gesicht in beide Hände vergraben. Ich sah nicht, dass er heulte, ich hörte es nur. Dabei hätte ich heulen sollen. Oder Nora, wenn sie nur konnte. Aber doch nicht er. Dabei hätte er einem fast ein bisschen leidtun können. Wie ein Häufchen Elend saß er da und schüttelte unaufhörlich den Kopf, während um ihn herum zwei Polizisten ihn zu beruhigen versuchten. Oder zu befragen. Oder beides. Aber der Junge heulte nur. Er hatte ein paar Schürfwunden an Armen und Beinen, soweit ich das erkennen konnte. Sein Fahrrad, das gegenüber auf der Straße lag, war schwarz-gelb und wohl ziemlich hinüber. Ein Blechschaden! Ich hoffte innigst, dass er nicht um sein Fahrrad heulte.

Wenn Nora doch auch nur einen Blechschaden gehabt hätte.

Zwei weitere Sanitäter hatten Nora inzwischen in eine Vakuummatratze gebettet. Wie es einer Prinzessin gebührte. Nicht in eine Vakuummatratze, natürlich, sondern in ein Himmelbett, eigentlich. Aber zur Not tat es auch die Matratze. Mich hatte man meiner Aufgabe entledigt die Infusion zu halten. Die Flasche hing jetzt an einer Vorrichtung auf der Liege. Wie sie dort hingekommen war, wusste ich nicht. Ich stand neben mir. Bildlich gesprochen.

Nora stöhnte auf. Meine Alarmglocken läuteten. Die sollen doch aufpassen, was sie da machen!

„He, Sie tun ihr weh!“ Ich wollte hin. Dornröschen retten.

„Beruhigen Sie sich. Wir versuchen Ihre Frau nur stabil zu lagern.“

Der Sanitäter, der mich vor kurzem noch mit Nachdruck auf die Seite geschoben und mit der Infusion versorgt hatte, hielt meine Schultern fest. Ein zäher Mann mit ruhigen, braunen Augen und einem seltsamen Schnauzer mitten im hageren Gesicht.

„Wir tun, was wir können. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Beruhigen Sie sich. Der Rettungshubschrauber muss in jedem Moment eintreffen, so lange kümmert sich Doktor Schlick um ihre Frau.“

Ich nickte. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, aber stattdessen nickte ich nur. Es sieht doch gar nicht so schlimm aus, wollte ich sagen. Kein Blechschaden, nur ein bisschen Blut. Was war das bisschen Blut schon, das konnte man doch wieder wegwischen. Aber ich sagte nichts.

„Möchten Sie die Beine hochlegen? Sie sehen blass aus.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann setzen Sie sich wenigstens.“ Der nette Hagere schob mich zu seinem Auto und bot mir eine Sitzgelegenheit an.

„Wir fliegen Ihre Frau gleich in die Klinik nach Ludwigshafen.“

Ich nickte. Fliegen. Ich sah das Bild ganz deutlich vor mir. Nora hätte nicht einfach über die Straße gehen sollen ohne sich zuvor umzusehen. Sie hatte das Geräusch nicht gehört. Wer hört schon einen Fahrradfahrer, wenn er in Schallgeschwindigkeit an einem vorbeirauscht. Aber ihn traf wohl keine Schuld, Nora hätten gucken sollen. Stattdessen flog sie in hohem Bogen über das Rad des jungen Mannes fast bis auf die andere Straßenseite. Kopfüber. Und blieb dann auf dem Rücken liegen. Ich hatte noch ein gehauchtes Huch gehört als er sie frontal erfasste. Aber ich konnte nichts tun, ich konnte nur zusehen. Und rüber rennen. Und die Nummer wählen, die man im Kopf hat. Jeder kennt diese Nummer, die man wählt, wenn man in Not ist. Genauso wie jeder weiß, dass man sich erst umdreht, bevor man über die Straße geht. Nora heute nicht. Beschissene Katze!

Das Rotorgeräusch wurde immer lauter. Die Menschen gingen in Deckung als der Wind stärker wurde. Und es waren viele Menschen, die inzwischen um die abgesperrte Unfallstelle standen und gafften. Wie die Menschen immer gaffen mussten! Dabei war es gar nicht das Mitleid, das sie antrieb, es war die Sensationslust und die Erleichterung darüber, dass es glücklicherweise einen Anderen erwischt hatte.

Mitten auf dem Feld neben der kleinen Kreuzung kam der Hubschrauber herunter. Das Gras legte sich widerstandlos auf die Erde und die Leute klammerten sich an ihren Jacken fest als könnten sie damit verhindern, jeden Moment weggeweht zu werden. Bloß nicht bewegen. Bloß nichts verpassen. Immer schön stehen bleiben und die Kleidung festhalten.

Es dauerte nicht lange bis Nora eingeladen war und der Hubschrauber wieder losfliegen konnte. „Fahren Sie mit?“

Ich nickte wohl. Der Sanitäter schob mich in den Rettungswagen und schloss die Klappe hinter mir. Wir fuhren ins Krankenhaus zu meiner Frau. Dabei war sie gar nicht meine Frau.

Samstag, 18.September, Friedericus

Aaron wartete im Friedericus. Das Cafe in der Friedrichstraße war voll besetzt. Auf den Stühlen lagen schon die Decken bereit, die vor dem kühlen Wind schützen sollten, der sich um diese Jahreszeit gerne die Langeweile vertrieb.

An diesem Tag war er gnädig. Draußen saßen die Menschen auf den Korbstühlen, um die letzten wärmenden Strahlen der Spätsommersonne zu genießen, die sich in den vergangenen Tagen immer rarer machte. Und die Wenigen, die mangels Freiluftplätze drinnen saßen, versammelten sich um die Tische und schlürften ihren Kaffee mit sehnsuchtsvollem Blick nach draußen. Wer bei diesem Wetter an einem Samstagnachmittag drinnen Kaffee trank, der musste den Kaffee wirklich nötig haben.

Es war halb vier als er sich endlich einen Milchkaffee bestellte. Lena war nirgendwo zu sehen.

Die Leute schlenderten gruppenweise an ihm vorüber. Ehepaare, Wanderer, gestylte Ladies im Shoppingfieber, Familien mit hüpfenden, eisschleckenden Kindern, Touristen. Mit Rucksäcken, mit Taschen, Frauen mit Männern im Schlepptau, ihren Männern, die wahlweise die Tüten schleppten oder die mit Tüten behängten Kinderwägen schoben. Im Sommer war es immer erstaunlich, wie gutgelaunt selbst die Männer bei einem Einkaufsbummel waren. Vielleicht lag es an den schönen Ausblicken die sie auf die im Sommerschlussverkauf erworbenen Kleider und Röcke werfen konnten, die die jungen, unverheirateten Frauen zur Schau trugen. Wenn sie nur ein paar Schritte hinter ihrer Liebsten schlenderten, dann konnten sie ungestört ihre Blicke schweifen lassen.

Lena hatte sicherlich auch schöne Beine (wahrscheinlich, weil sie nicht verheiratet war), aber Aaron konnte sie nirgendwo erblicken. Lena kannte er schon von der Schule. Sie besuchte die Parallelklasse, teilte später nichts als einige Kurse mit ihm und war immer vergeben. Die einzige Gelegenheit, ihr näherzukommen, bot sich in der zwölften Klasse in der Theater-AG. Keiner wusste, wie er es geschafft hatte, aber Aaron war damals Romeo und Lena war Julia. Eigentlich war er ein lausiger Schauspieler, aber die Jungs in der AG waren dünn gesät und keiner war so groß wie er. Das waren wohl die einzigen Gründe, warum die Wahl auf ihn fiel. Leider führte die Deutschlehrerin Frau Kubitsch nicht auch im echten Leben Regie, und so gehörte nach dem Fall des Vorhangs sein heldenhafter Romeo schon wieder der Vergangenheit an.

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